Neulich hat die Frau von Rolf Buch, des Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann-Tochterfirma Arvato, versucht, im Rathaus von Gütersloh einen neuen Pass für die Tochter zu besorgen. Beim ersten Behördengang stellte sie einen Antrag. Beim zweiten Besuch stellte sich heraus, dass das Foto nicht biometrisch war. Beim dritten Besuch fehlte die Unterschrift des Vaters. Beim vierten Besuch war dann alles in Ordnung, sagt Rolf Buch. „Stellen Sie sich vor, was das an Zeit und Aufwand kostet, wenn der Verwaltungsmitarbeiter viermal einen Antrag herauskramt und viermal Auskunft gibt.“ Wäre die Bearbeitung online möglich, hätten sich die Stadt und seine Frau viel Zeit und Arbeit gespart, behauptet er.
Rolf Buch erzählt von seinen Erfahrungen mit Behörden, um deutlich zu machen, welch großes Potenzial für Bertelsmann im Dienstleistungsbereich für Verwaltungen liegt. Die entsprechenden Zahlen kann er auswendig aufsagen: In Deutschland seien rund 1,5 Millionen Leute in Kommunalverwaltungen tätig. Bei durchschnittlichen Jahreskosten von 70 000 Euro per Mitarbeiter ergebe sich ein Volumen von 105 Milliarden Euro. Eigene Erhebungen von Arvato ergaben, dass rund 20 Prozent outsourcebar seien. Das entspreche einem potenziellen Markt von 20 Milliarden Euro – so viel wie der gesamte Jahresumsatz von Bertelsmann und „größer als das weltweite Musikgeschäft“, betont Buch.
Derzeit seien Umsatz und Gewinn aus der Sparte „Government Services“
noch gering. Arvato betreut einen Landkreis in England und seit Montag die Kommunalverwaltung von Würzburg. Mittelfristig solle das Geschäft mit Kommunen eine Milliarde Euro Jahresumsatz für Arvato generieren, sagte Buch am Mittwoch bei der Bilanzpressekonferenz seines Unternehmens in Gütersloh. Neben dem Ausbau in Deutschland will die Firma die Märkte in Spanien und Frankreich erschließen. „Alle westeuropäischen Länder verfügen über erhebliches Outsourcepotenzial.“
Derzeit beteiligt sich Arvato an Ausschreibungen in England und ist „optimistisch, in diesem Jahr noch einen weiteren Kunden akquirieren zu können“.
Weil Arvato als Dienstleister nicht mit Endkunden, sondern mit Firmen und Institutionen Geschäfte macht, ist das Unternehmen weitgehend unbekannt. Die Zentrale liegt in Gütersloh, nur wenige Hundert Meter vom Hauptsitz von Bertelsmann entfernt. Arvato ist die Keimzelle des Medienunternehmens, aus dessen Reihen Bertelsmann regelmäßig seine Vorstandsvorsitzenden rekrutiert: Mark Wössner, Thomas Middelhoff, Gunter Thielen und jetzt Hartmut Ostrowski – alle Vorstandsvorsitzenden kamen aus dieser Sparte. Dort lernen sie das Kerngeschäft von Bertelsmann: den Vertrieb und Verkauf von Service und Produkten. Arvato ist der größte Druckdienstleister in Europa und einer der größten Callcenter-Betreiber in Deutschland, liefert in Deutschland 80 Prozent aller Mobiltelefone aus, organisiert die Bahncard der Deutschen Bahn und das Vielfliegerprogramm der Lufthansa.
Als Hartmut Ostrowski, der ehemalige Arvato-Chef und seit Januar Vorstandsvorsitzender von Bertelsmann, Mitte März ein stark zurück- gegangenes Jahresgewinnergebnis präsentierte, sprach er viel über Wachstum und sagte: „Wir müssen und werden uns verändern, um den Wert von Bertelsmann kontinuierlich zu steigern.“ Doch woher soll das Wachstum kommen? Durch Zukäufe? Da sind Ostrowski weitgehend die Hände gebunden; um ein Viertel der Anteile zurückzukaufen, musste sich Bertelsmann stark verschulden. Deshalb müsse Europas führendes Medienunternehmen vor allem organisch wachsen, durch Ideen und Innovationen. Dabei vertraut er auf Arvato, wo er selbst fast sein gesamtes Berufsleben verbracht hat. „Die Dienstleistungen haben sich bei Bertelsmann als zentrale zweite Säule neben der RTL-Group etabliert und werden in Zukunft für Bertelsmann noch wichtiger werden.“ Dass Arvato mit Dienstleistungen weiter wachsen soll, bedeute aber „keine Abkehr vom Inhalte-Geschäft“, sagte Ostrowski. „Wir tun
beides: das Mediengeschäft vorantreiben und das Servicegeschäft ausbauen.“
Vielen ist Arvato noch immer unbekannt. So kommt es, dass die Oberbürgermeisterin von Würzburg, Pia Beckmann, bei der Eröffnung des Bürgerbüros zum Pilotprojekt „Würzburg integriert“ den Stadträten den falschen Mann als Vorstandsvorsitzenden von Arvato vorstellte. Das kann passieren.
Mit „Würzburg integriert“ hat Arvato den Einstieg in den deutschen Markt für Verwaltungsdienstleistungen geschafft. Es ist ein bundesweit einzigartiges Projekt mit Pilotcharakter. Arvato steuert alle Verwaltungsabläufe über eine zentrale Internet-Plattform, auf die die Bürger auch von zu Hause Zugriff haben. Ziel sei es, alle Dienstleistungen über nur eine Anlaufstelle anzubieten. Würzburg erhofft sich während der Laufzeit von zehn Jahren durch Personalabbau Einsparungen in Höhe von 27 Millionen Euro: Von 600 Verwaltungsmitarbeitern sollen 75 Mitarbeiter, die in Ruhestand gehen, nicht ersetzt werden. Die Stadt erhält zehn der gesparten 27 Millionen Euro, die Projektkosten belaufen sich auf weitere zehn Millionen, somit bleiben Arvato bis zu sieben Millionen Euro Gewinn.
Das Bürgerbüro im Erdgeschoss des Rathauses verfügt über 16 Schalter, die seit Montag rund 30 Prozent der Verwaltungsdienstleistungen bearbeiten, etwa Melde- und Passwesen, Kfz-Zulassungen, Führerscheinangelegenheiten und Gewerbewesen sowie alle Formalitäten eines Umzugs. Ziel ist die papierlose Verwaltung, die in drei Jahren 100 Prozent der Abläufe persönlich, telefonisch oder online abwickeln wird.
In England steuert Arvato teilweise den Landkreis East Riding und hat dazu nach eigenen Angaben 516 von mehr als 9 000 Verwaltungsmitarbeitern übernommen. Diese Mitarbeiter ziehen sogar Steuern ein. In Würzburg dagegen fungiere Arvato nur als Dienstleister und habe keine städtischen Mitarbeiter oder hoheitliche Aufgaben übernommen, betonen Arvato und die Stadt Würzburg.
Kritiker wie die Linkspartei werfen der Stadt dennoch vor, sie habe die Kontrolle abgegeben. Bertelsmann könnte Daten missbrauchen und beispielsweise mit Adressen handeln. Die Oberbürgermeisterin bestreitet den angeblichen Kontrollverlust. Arvato trage das finanzielle Risiko, aber die Stadt bestimme, ob Stellen eingespart werden.
Bei den Kommunalwahlen vor einigen Wochen hat die CSU-Politikerin Beckmann gegen den SPD-Kandidaten Georg Rosenthal verloren. Ende des Monats muss sie ihr Amtszimmer räumen. Für „Würzburg integriert“
bedeutet das einen Rückschlag, denn Beckmann war die eifrigste Befürworterin des Projekts. Ihr Nachfolger kündigte laut der Lokalzeitung Main-Echo an, er werde die Verträge mit Arvato genau studieren. Beckmann sagt, die Verträge seien geprüft. Ihnen liegt ein einstimmiger Stadtratsbeschluss zugrunde. Es gebe keinen Grund für Änderungen.
Arvato sieht in dem Würzburger Projekt einen Einstieg in den deutschen Markt mit öffentlichen Dienstleistungen; 30 weitere Kommunen seien interessiert, darunter auch die Stadt Gütersloh. Ihm sei bewusst, dass Outsourcing von Verwaltungsmitarbeitern in Deutschland nicht nur Freunde habe, sagt Buch. Aber er weiß auch, dass Arvato die Finanznot der Kämmerer hilft. Gleiches gilt für die EU- Dienstleistungsrichtlinie, die die Kommunen in den nächsten beiden Jahren umsetzen müssen. Die Richtlinie zwinge sie zu Koordination und elektronischer Vernetzung, sagt Professor Rainer Thome. Der Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik der Universität Würzburg ist E-Governmentbeauftragter der Bayerischen Regierung und begleitet das Würzburger Projekt. „Endlich wird der Bürger von der unsinnigen Teilung von Behördenabläufen befreit,“ sagt Thome. „Alle Daten werden nur mehr einmal erfasst, gespeichert und bearbeitet. Das ist eine Revolution.“
Die Konkurrenz in diesem Markt ist überschaubar. Würzburg hatte das Projekt europaweit ausgeschrieben. Es gab fünf ernsthafte Bewerber, härtester Mitbewerber war das Unternehmen British Telecom, das beispielsweise in Liverpool ein Bürgerbüro betreut. Am Ende überzeugte das Gesamtpaket von Arvato, sagt Beckmann. Die Konkurrenz sei auch deshalb gering, sagt Professor Thome, weil potenzielle Bewerber vielen Einschränkungen unterliegen. Deshalb mieden sie diesen Sektor.
Der Start in Würzburg am Montag verlief jedenfalls alles andere als
geplant: Zeitweise brach das System zusammen, es bildete sich eine Schlange von 30 Bürgern, berichtet Beckmann. Statt Anträge zu bearbeiten, schenkten Mitarbeiter Kaffee aus. Gemeinsam mit Arvato arbeiteten sie die ganze Nacht, damit das System wieder lief.
Für Bertelsmann ist der Wandel vom Medien- zum Dienstleistungsunternehmen keineswegs so revolutionär, wie es den Anschein hat. In Wirklichkeit ist es ein Schritt zu den Wurzeln. Zwar feiert das Unternehmen die Verlagsgründung 1835 als Geburtsstunde. In Wirklichkeit ist Bertelsmann älter: Mehr als zehn Jahre davor hatte Carl Bertelsmann 1824 eine Druckerei gegründet. Das Unternehmen war also von der ersten Stunde an ein Serviceunternehmen. Den Verlag gründete Carl Bertelsmann, um die Druckerei auszulasten. So denken Dienstleister.
Quelle: Berliner Zeitung