NRW: Mietrechtseinschraenkungen fuer Privatisierer

Die Regierung in NRW hat die Abschaffung der verlängerten Kündigungssperrfrist für umgewandelte Mietwohnungen verordnet. Damit besteht für Mieter in Umwandlungsobjekten nur noch einen Schutz vor Eigenbedarfskündigungen vom maximal 3 Jahren statt bislang bis zu 8 Jahren. Für Käufer privatisierter Wohnungsbestände wir die Umwandlung in Eigentumswohnungen damit leichter. Das Mieterforum Ruhr, das die Absicht der Landesregierung seit dem letzen Jahr bekämpft, kritisiert die hinter verschlossenen Türen gefällte Entscheidung heftig und kündigt weitere Proteste an.
Nach einer im April 2004 erlassenen Verordnung des Landes konnten sich der Erwerber von umgewandelten Mietwohnungen in vielen Städten in NRW für einen Zeitraum von 8 oder 6 Jahren nach erstmaligem Verkauf der Eigen-tumswohnung bei einer Kündigung des ursprünglichen Mieters nicht auf Eigenbedarf oder eine sog. unzureichende wirtschaftliche Verwertung berufen. Diese Landesverordnung zum Schutz privatisierungsbetroffener Mieter wurde nun zum 31. 12. 2006 aufgehoben. Für Mieter in umgewandelten Mietwohnungen, die bereits in den letzten Jahren verkauft wurden, gilt gemäß Landesverordnung übergangsweise eine Sperrfrist bis zum 31. 12. 2009. Für alle Umwandlungen ab dem 1. 1. 2007 gilt nur noch die bundesgesetzliche 3-jährige Sperrfrist.

Die „Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Bestimmung der Gebiete mit Kündigungssperrfrist“ wurde ohne weitere Information des Parlamentes und der Öffentlichkeit bereits am 19. September von der Regierung erlassen, aber erst am 7. November im Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes NRW veröffentlicht. Also nach der Bekanntmachung der Entscheidung zum Verkauf der landeseigenen LEG, die zu einem großen Presseecho führte. Mieterforum Ruhr wirft der Landesregierung vor, die Veröffentlichung ihrer Entscheidung zur Sperrfrist bewusst zurückgehalten zu haben, da die Nachricht einer so grundlegenden Schwächung des Mieterschutzes schlecht zu dem Versprechen gepasst hätte, die LEG-Mieter mit einer „Sozialcharta“ zu schützen.

Am gleichen Tag (7. 11.) stellte die Fraktion B90/Die Grünen im Landtag einen Antrag „Die Kündigungssperrfrist- und die Zweckentfremdungsverordnung müssen erhalten bleiben!“, der am 16. 11. 2006 in der Plenarsitzung behandelt und zur Beratung an den zuständigen Ausschuss überwiesen wurde. Bei dieser Gelegenheit fand auch eine inhaltliche Debatte statt. Der Landtag wurde jedoch selbst bei dieser Gelegenheit nicht über die bereits erfolgte Abschaffung der Sperrfrist unterrichtet.

„Wer behauptet, die Mieter würden bei einem Verkauf der LEG gegen Verdrängung geschützt, gleichzeitig aber das wirksamste Mittel für einen solchen Schutz klammheimlich abschafft, macht sich völlig unglaubwürdig“, wirft Mieterforum Ruhr Ministerpräsident Rüttgers vor. „Rüttgers betreibt bewusst ein doppeltes Spiel. In der Öffentlichkeit gibt er sich sozial, während sein Kabinett im stillen Kämmerlein die letzten Reste sozialer Wohnungspolitik in NRW von oben herab und ohne Information des Parlamentes beseitigt.“

Mieterforum Ruhr sieht in der Abschaffung der Sperrfrist, die Schwarz-Gelb bereits im Koalitionsvertrag vereinbart hatte, eine logische Ergänzung der Privatisierungspläne. „Ohne diesen verbindlichen Schutz ist die LEG gleich einiges mehr wert und selbst unverbindliche Selbstverpflichtungen können dann als Erfolg ausgegeben werden.“ Nicht ohne Grund richtet sich die „Volksinitiative sichere Wohnungen und Arbeitsplätze“, für die weiterhin landesweit Unterschriften gesammelt werden, deshalb sowohl gegen den LEG-Verkauf als auch gegen die Abschaffung der Sperrfrist. „Nach dem bekannt Werden der Abschaffung der Sperrfrist gilt das gleiche wie nach der Bestätigung der Verkaufsabsicht: Jetzt erst recht ist landesweiter Mieterprotest erforderlich!“

Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch gilt bun-desweit eine Sperrfrist von 3 Jahren. Die Landesregierungen dürfen diese Frist per Verordnung unter Berufung auf die Wohnungsmarktsituation für bestimmte Gebiete auf bis zu 10 Jahre verlängern. Viele – auch CDU-regierte – Länder haben das getan. In NRW gilt seit dem 1. 10. 2004 in 57 Kommunen eine Sperrfrist von 8 Jahren und in 48 Kommunen 6 Jahre Sperrfrist. Davor gab es in 274 NRW-Kommunen 10 Jahre Sperrfrist. „Der Erlass der NRW-Verordnung 2004 basierte auf einer umfassenden und langwierigen wissenschaftliche Untersuchung der Wohnungsmärkte in NRW. Die schwarzgelbe Regierung streicht die Verordnung jetzt nur zwei Jahre später ohne jede Untersuchung und behauptet einfach: Die Märkte sind entspannt“, sagt Aichard Hoffman vom Mieterforum Ruhr. „Die Anwendung der Verordnung war völlig bürokratiefrei und hat dem Land keinerlei Kosten verursacht. Dieser Schlag gegen den Mieterschutz ist rein ideologisch begründet.“

Als Folge der Entscheidung der Landesregierung befürchtet Mieterforum Ruhr eine weitere Anheizung der Umwandlungswelle und eine starke Verunsicherung der Mieter, die nun voreilig aus ihren Wohnungen ausziehen oder sich zu teueren Wohnungskäufen gezwungen sehen könnten.

Mieterforum Ruhr rät den betroffenen Mietern, nicht in Panik zu geraten. Auch nach Ablauf der Sperrfrist sei nicht sicher, ob ein Eigentümer die Wohnung auch selbst nutzen wolle. Vor allem ältere Mieter könnten einer Eigenbedarfskündigung aus sozialen Härtegründen widersprechen. Bei der Deutschen Annington und einigen anderen Unternehmen gelten zusätzliche Absicherungen aufgrund von freiwilligen Selbstverpflichtungen der Unternehmen, Belegungsrechten der Industrie oder Siedlungsvereinbarungen. Überdies sei zur Kündigungssperrfrist noch nicht das letzte Wort gesprochen.

„Nach unserer Rechtsauffassung wird durch die z. T. massive Verkürzung der Sperrfrist der Vertrauensschutz betroffener Mieter verletzt. Beim Verkauf der umgewandelten Wohnung haben Mieter eventuell ihr Vorkaufsrecht nicht genutzt, weil sie auf die längere Frist vertraut haben. Jetzt wird dieser Zeitraum verkürzt!“, erklärt Rainer Stücker vom Mieterforum Ruhr. „Auch für die Mieter, deren Wohnungen in den letzten Jahren umgewandelt, aber noch nicht verkauft wurden, ist rechtlich zu klären, ob sie sich auf Vertrauensschutz berufen können.“ Eine rechtliche Klärung wird aber vermutlich erst ab 2010 möglich sein.

Die nächsten Landtagswahlen sind 2010. Genau zu diesem Jahr läuft die Übergangsregelung aus und damit könnte es zu einer Welle von Eigenbedarfskündigungen kommen. „Wenn eine solche Entwicklung eintritt, kann sich Rüttgers im Wahlkampf auf einen Sturm einstellen“, so Mieterforum Ruhr.

Knut Unger, Mieterforum Ruhr

Institut fuer Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung

Ein Beispiel für die Privatisierung/Entstaatlichung/Lobbyisierung von universitärer Bildung und gleichzeitig ein Quell von Information zur Wohn- und Immobilienprivatisierung: Das InWIS:

„Das InWIS Institut für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung ist ein gemeinnütziges Forschungs- und Wissenstransferinstitut im Europäischen Bildungszentrum der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft (EBZ), das von der Gesellschaft der Freunde und Förderer des InWIS e.V. unterstützt wird. Das InWIS ist vom Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen als Institut an der Ruhr-Universität Bochum anerkannt worden. Es ist das erste und bislang einzige interdisziplinäre Forschungs- und Transferinstitut im Bereich des Wohnungs- und Immobilienwesens, das an eine Universität angebunden ist.“

Hier z.B. wird der boomende Wohnungsprivatisierungsmarkt bejubelt.

Kongress: Solidarische Oekonomie

Von 24. bis 26. November 2006 findet in Berlin in den Räumen der Technischen Universität der „Kongress Solidarische Ökonomie. Wie wollen wir wirtschaften?“ statt.
http://www.solidarische-oekonomie.de/
Unter anderem mit Themen wie „Daseinsvorsorge in Bürgerhand: Wasser und Strom“, „Perspektiven rückeroberter Betriebe“ oder „alte und neue Kooperativen in Venezuela“.

Weltweit entwickeln sich mit rasanter Geschwindigkeit Projekte einer anderen Ökonomie. In Lateinamerika, Asien und Afrika, aber auch in Europa suchen immer mehr Menschen nach wirtschaftlichen Alternativen. Gleichzeitig wächst die internationale globalisierungskritische Bewegung mit ihren politischen Forderungen. Diese Bewegung verbindet sich in einigen Ländern zunehmend mit der Solidarischen Ökonomie.

Auch in Deutschland gibt es einen großen Wirtschaftssektor Solidarischer Ökonomie, der sehr unterschiedliche Formen von Betrieben und Projekten umfasst, z.B. alte und neue Genossenschaften, selbstverwaltete Betriebe, Unternehmungen mit sozialer Zielsetzung, Wohn- und Gemeinschaftsprojekte, Tauschringe, alternative Finanzierungseinrichtungen, fairen Handel, landwirtschaftliche Direktvermarktung, Frauenprojekte, Initiativen für offenen Zugang zu Wissen und andere Formen wirtschaftlicher Selbsthilfe.

Die Zeit ist reif für einen Kongress, der diesen Wirtschaftssektor öffentlich darstellt und politische Fragen Solidarischer Ökonomie diskutiert; für einen Kongress, der Mut macht zu solidarischem ökonomischen Handeln, die vielfältigen Akteure zusammen bringt und einen Raum bietet für die Diskussion offener und kontroverser Fragen.

Keine Bundesgelder fuer Berlin – Das Bundesverfassungsgericht schlaegt weitere Privatisierungen vor

Einer dpa Meldung zu Folge bekommt das finanziell angeschlagene Land Berlin kein zusätzliches Geld vom Bund. Das Bundesverfassungsgericht wies am Donnerstag (19.10.2006) die Klage der Bundeshauptstadt auf Anerkennung einer extremen Haushaltsnotlage ab. Das Gericht begründete seine Entscheidung u.a. mit „nicht ausgeschöpften Einsparpotenzialen“ und verwies ausdrücklich auf einen möglichen Verlauf der landeseigenen Wohnungsbestände.

Das mit mehr als 60 Milliarden Euro verschuldete Land hatte Sanierungshilfen aus dem Bundesetat gefordert und sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1992 berufen. Damals hatten die Verfassungsrichter Bremen Bundeshilfen wegen einer extremen Haushaltsnotlage zugesprochen. Seit 2002 erhält Berlin keine Bundeshilfen mehr für seine Haushaltssanierung.

Nach den Worten des Gerichts-Vizepräsidenten Winfried Hassemer befindet sich Berlin zwar in einer angespannten Haushaltslage, die es aber „mit großer Wahrscheinlichkeit“ aus eigener Kraft überwinden könne. Bundesstaatliche Hilfen zur Sanierung eines Landes seien nur in seltenen Ausnahmefällen möglich, wenn eine Existenzbedrohung des Landes nicht mit anderen Mitteln abzuwehren sei. Der Zweite Senat fällte seine Entscheidung einstimmig.

Die Haushaltsprobleme Berlins liegen nach Überzeugung des Zweiten Senats nicht bei den Einnahmen, sondern bei den Ausgaben. Konsolidierungsbemühungen der letzten zehn Jahre hätten trotz guter bis überdurchschnittlicher Einnahmen bisher nicht dazu geführt, die hohen Ausgaben zu reduzieren. Schon deshalb seien noch nicht ausgeschöpfte Einsparpotenziale zu vermuten.

Zudem zeige der Vergleich mit dem Stadtstaat Hamburg, dass Berlin vor allem für Hochschulen, Wissenschaft und Kultur deutlich mehr ausgebe als die Hansestadt. Auch Einnahmeverbesserungen seien möglich, etwa durch die Anhebung der Gewerbesteuer oder den Verkauf der landeseigenen Wohnungen für etwa fünf Milliarden Euro.

Aktenzeichen: Bundesverfassungsgericht 2 BvF 3/03

Evolutionsbiologischer Beitrag zur Verhuetung der Tragedy of the Commons

Viele Probleme der menschlichen Gesellschaft, wie die Überfischung der Meere oder das globale Klimaproblem, sind Kooperationsprobleme. Wenn Personen, Gruppen oder Staaten frei sind, eine gemeinschaftlich bewirtschaftete Ressource übermäßig zu nutzen, dann tun sie das in der Regel auch. Dieses als „Tragedy of the Commons“ bekannte Problem wird von Sozial-, Politik- und Wirtschaftswissenschaftlern seit Jahrzehnten und neuerdings auch von Evolutionsbiologen intensiv untersucht. Doch außer der Möglichkeit, Nicht-Kooperationsbereite direkt zu bestrafen, hat man bisher noch keine kooperative Lösung der Tragedy of the Commons gefunden. Forscher des Plöner Max-Planck-Instituts für Limnologie konnten nun experimentell zeigen, dass ein Gemeinschaftsgut dann kooperativ bewirtschaftet wird und die „Tragedy of the Commons“ nicht mehr existiert, wenn die Art und Weise, wie das Gut genutzt wird, mit der Reputation des Nutzers verknüpft wird (nature, 24. Januar 2002). Gelingt das, wirft die Gemeinschaftsressource für alle Nutzer hohen Gewinn ab.

Mehr Details in der Pressemitteilung der MPG.

Geographie und Klima als Determinanten menschlicher Entwicklungsgeschichte

„Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften“ von Jared Diamond (zuerst 1997: „Guns, Germs, and Steel“) geht eine ähnliche These an wie „Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind“ von David S. Landes (in englischer Sprache zuerst 1998). Aber längst nicht so aufdringlich. Und aus der eher einleuchtenden Perspektive der historischen Anthropologie als der der Wirtschaftswissenschaften. Diamond ist zwar genauso wenig Marxist wie Landes, aber das Buch läßt sich leichter ‚gegen den Strich‘ lesen.
vgl. auch http://www.mysteria3000.de/wp/?p=63

Konferenz: Sachzwang Privatisierung?

Strategien zur Verteidigung öffentlicher Güter in Europa

mit:
Oskar Lafontaine (Vorsitzender der Fraktion Die Linke. im Bundestag)
Sahra Wagenknecht (MdEP)
Harald Wolf (Wirtschaftssenator des Landes Berlin)
Francis Wurtz (Vorsitzender der Linksfraktion GUE/NGL im Europaparlament)
Dr. Werner Rügemer (Journalist und Buchautor)
Prof. Dr. Jörg Huffschmid (Universität Bremen)
Veronika Hannemann (Ver.di Bezirk Berlin, Fachgruppe Wasser)
Alexis Passadakis (Attac, Weed)
Benedict Ugarte Chacón (Initiative Berliner Bankenskandal)
Dr. Klaus Lederer (Vorsitzender der Linkspartei.PDS Berlin, angefragt)

Samstag, 7. Oktober 2006
im Europahaus, Unter den Linden 78, Berlin

Sachzwang Privatisierung?
Ob Wasser oder Energieversorgung, Krankenhäuser oder Verkehrsbetriebe, Post oder Bahn, Sozialwohnungen oder Schulen – es gibt kaum einen Bereich, der vom Privatisierungswahn der letzten 15 Jahre verschont geblieben ist. Dass mehr und mehr öffentliche Güter zur Ware werden, ist einerseits die Folge der neoliberalen Politik der EU-Kommission. Zum anderen sind durch Steuergeschenke an Reiche und große Unternehmen Haushaltslöcher entstanden, die durch den Verkauf des „Tafelsilbers“ wieder gefüllt werden sollen.
Was kann man gegen den Verkauf öffentlichen Eigentums und die Kommerzialisierung sozialer Leistungen tun und wie kann man die Rekommunalisierung privatisierter Betriebe vor Ort durchsetzen? Wir laden herzlich dazu ein, mit ExpertInnen aus Politik, Wissenschaft und sozialen Bewegungen über diese Fragen zu diskutieren. Ziel ist es, anhand von konkreten Beispielen (Berliner Wasserbetriebe, Berliner Sparkasse) die Hintergründe und Folgen von Privatisierungen aufzuzeigen und Strategien zur Rekommunalisierung privatisierter Betriebe zu entwickeln.

Programm:

13 – 15 Uhr:
Droht die Privatisierung von Sparkassen und welche Alternative gibt es?
mit Harald Wolf, Prof. Dr. Jörg Huffschmid, Benedict Ugarte Chacón

15 – 17 Uhr:
Lokale Proteste gegen Privatisierung und Strategien der Rekommunalisierung am Beispiel der Berliner Wasserbetriebe
mit Dr. Werner Rügemer, Alexis Passadakis, Veronika Hannemann, Dr. Klaus Lederer (angefragt)

17.30 – 19.30 Uhr
Von Frankreich lernen? Der Kampf gegen Deregulierung und Privatisierung in der EU
mit Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht, Francis Wurtz

Um Anmeldung wird gebeten.

Telefon: +32-2-28-45619 (Brüssel) oder 030-227-70419 (Berlin)
mailto:Sahra.Wagenknecht@europarl.europa.eu
http://www.sahra-wagenknecht.de

Copyright-Gerangel um Galileo (Euro-Satelliten-Navigation)

Zitat aus dem Streit: „Man könne ja wohl auch keinen Leuchtturm bauen und verhindern, dass jemand beobachtet, wie oft das Licht aufleuchtet, und die Koordinaten misst: ‚Kann der Besitzer von mir eine Lizenzgebühr fordern, wenn ich das Licht anschaue? Nein. Warum sollte dann das Anschauen des Galileo-Satelliten etwas anderes sein?'“ Mehr im Telepolis-Artikel:
„Galileo-Code gecrackt“ von Florian Rötzer 11.07.2006
US-Wissenschaftler nehmen für sich das Recht in Anspruch, einen Code für das EU-Navigationssystem Galileo zu cracken, da man „elementare Daten über die physische Welt nicht durch Copyright schützen“ könne
Ende letzten Jahres, am 28.12.2005, wurde der erste Satellit des europäischen Satellitennetzes Galileo (1) in seine Umlaufbahn gebracht ( Verspätete Feierstimmung am 28. Dezember (2)). „Giove-A“ (Galileo In-Orbit Validation Element-A) ist ein Testsatellit. Eigentlich sollte bereits im Frühjahr 2006 ein zweiter folgen, der Start wurde jedoch auf den Herbst verschoben. Ab 2008 sollen dann die ersten vier „echten“ Galileo-Satelliten folgen, um dann 2010 in Konkurrenz mit dem amerikanischen GPS-System und dem russischen Glonass zu treten. Giove-A dient der Frequenzsicherung, der technischen Validierung und hat einen Signalgenerator an Bord.
Wie Mitarbeiter des Global Positioning System (GPS) Laboratory (3) der Cornell University berichten, haben sie den bislang geheim gehaltenen Code des Satelliten Giove-A geknackt. Das betrifft den Offenen Dienst (Open Service) von Galileo, der kostenlose Positions-, Geschwindigkeits- und Zeitangaben beispielsweise für Fahrzeuge und Mobiltelefone liefern soll. OS nutzt zwei Frequenzen für seine Signale, wodurch Fehler, verursacht durch Störungen in der Ionosphäre, korrigiert werden können und daher die Positionsbestimmungen genauer werden. Die Frequenzen enthalten zwei Code-Signale. Die Daten der Entfernungsmessung werden einem der Codes hinzugefügt, der zweite, der Pilot-Code, bleibt frei. Satelliten werden durch einen pseudozufälligen Code (PRN – pseudo random code) für den Empfänger identifiziert.
Der PRN auf dem Frequenzband L1 wurde, wie die amerikanischen Wissenschaftler süffisant anmerken (4), aber nicht veröffentlicht, obwohl es sich um das Signal des angeblich kostenlosen und frei zugänglichen OS handelte. Ein wenig scheinheilig spekulieren sie darüber, dass Galileo im Gegensatz zum GPS, das vom Pentagon mit Steuergeldern betrieben wird, möglicherweise auch für diese PRN-Codes eine Gebühr verlangen könnte. Nach langen Auseinandersetzungen mit dem Pentagon musste die EU nachgeben und für Galileo ein gleiches Grundsignal wie das GPS benutzen ( Wie weit geht der Einfluss? (5)). Das Pentagon kann so auch das Galileo-Signal in seiner Genauigkeit heruntersetzen, während es für das Militär das GPS-Signal weiter unbeeinträchtigt nutzen kann. Aufgrund des Abkommens mit den USA sind die Europäer verpflichtet, auch kostenlose Signale anzubieten, sagen die US-Wissenschaftler, was sie aber eben versäumt hätten – weswegen sie das wohl auf eigene Faust nachholen wollten.
Im Januar hatten die Wissenschaftler bei dem britischen Unternehmen Surrey Space Technologies Ltd. (6), das Giove-A entwickelt hat, nachgefragt, um die PRN-Codes zu erhalten, nachdem am 12. Januar die ersten Navigationssignale von Giove-A gesendet (7) wurden. Aber in Großbritannien wurden sie ebenso wie später in Deutschland abschlägig beschieden. Daraufhin begannen sie mit dem Versuch, diese zu knacken. Nachdem sie die Signale vom Satelliten entdeckt und, auch durch die Hilfe eines Tipps eines deutschen Wissenschaftlers, die Codes entschlüsselt und im April auf ihrer Website veröffentlicht (8) hatten, konnte eine kanadische Firma mit ihren GPS-Geräten den Satelliten verfolgen.
Kurz danach, am 19. April, wurden die PRN-Codes bekannt (9) gegeben, nur stimmten sie offenbar nicht mit denen überein, die vom Testsatelliten tatsächlich benutzt wurden. Überdies wurde vom Galileo-Konsortium vorausgeschickt, dass die „Galileo Navigation Primary Codes“ geistiges Eigentum seien, woraus die US-Wissenschaftler schlossen, dass man „aus dem Open Source Code Geld machen“ wolle. Nach Mark Psiaki vom GPS Laboratory ist das seltsam und stellt für ihn gewissermaßen die Rechtfertigung dar, den Code zu knacken. Man könne ja wohl auch keinen Leuchtturm bauen und verhindern, dass jemand beobachtet, wie oft das Licht aufleuchtet, und die Koordinaten misst: „Kann der Besitzer von mir eine Lizenzgebühr fordern, wenn ich das Licht anschaue? Nein. Warum sollte dann das Anschauen des Galileo-Satelliten etwas anderes sein?“
Angeblich waren sich die Wissenschaftler erst einmal doch nicht so ganz sicher, ob das Kracken eines Codes für ein offenes System, der aber nicht veröffentlicht wurde, nicht doch eine Copyright-Verletzung darstellt. Schließlich ist hier die US-Regierung zum Schutz ihrer Wirtschaft besonders scharf. Man habe sich also mit dem Rechtsberater der Universität darüber verständigt, der den Wissenschaftlern in diesem Fall die Lizenz zum Cracken gegeben habe. Die Begründung klingt jedenfalls interessant:
–Uns wurde gesagt, dass das Cracken der Verschlüsselung von kreativen Inhalten wie Musik oder Filmen illegal sei, aber das Cracken der von einem Navigationssignal verwendeten Verschlüsselung ist ein faires Spiel. … Die Europäer können elementare Daten über die physische Welt nicht durch Copyright schützen, selbst wenn die Daten von einem Satelliten kommen, den sie gebaut haben.–
Dasselbe könnte man freilich auch für Filme oder Fotos sagen. Und natürlich erst recht für genetische Daten. Man könnte auch fragen, ob diese Daten tatsächlich elementar sind, da man sie ja nur erhalten kann, wenn es Satelliten gibt, die die entsprechenden Signale aussenden.

Update vom 12.7.
Timo Thalmann, der den Blog Geograffiti (10) betreibt, hat bei Galileo Joint Undertaking (11) (GJU) wegen des von den US-Wissenschaftlern propagierten Hacks einmal nachgefragt (12). Hans Peter Marchlewski, General Counselor von GJU, sieht das gelassen:
–Es handele sich bei GIOVE-A um einen ersten Testsatelliten für das geplante europäische Satellitennavigationssystem Galileo, der natürlich einen anderen Code benutze, als das spätere komplette System. Nichts anderes haben die Wissenschaftler der Cornell Universität festgestellt. Allerdings sei der jetzt verwendete Code sehr einfach und kurz gehalten und damit nach Angaben der Galileo Technik-Verantwortlichen relativ simpel und in ein paar Stunden tatasächlich mit jedem PC knackbar. „Das hat uns alles sonderlich überrascht und macht uns auch nicht nervös“, sagte Marchlewski.–
Geprüft würde derzeit die rechtliche Argumentation, also dass Navigationssignale als elementare Daten über die physische Welt gelten und sie daher nicht als geistiges Eigentum geschützt werden können. Marchlewski geht davon aus, dass man mit dem Signal keine Geschäfte machen will, wie die Amerikaner dies unterstellten, definitiv zurückweisen wollte er es aber auch nicht.

LINKS
(1) http://ec.europa.eu/dgs/energy_transport/galileo/index_en.htm
(2) http://www.telepolis.de/r4/artikel/21/21661/1.html
(3) http://gps.ece.cornell.edu/
(4) http://www.news.cornell.edu/stories/July06/GPS.code.cracked.TO.html
(5) http://www.telepolis.de/r4/artikel/17/17749/1.html
(6) http://www.sstl.co.uk/
(7) http://www.sstl.co.uk/index.php?loc=27&id=895
(8) http://gps.ece.cornell.edu/galileo
(9) http://www.galileoju.com/page.cfm?voce=s2&idvoce=64&plugIn=1
(10) http://www.geografitti.de/
(11) http://www.galileoju.com/
(12) http://www.geografitti.de/index.php?itemid=134

Freitag-Serie: Bildungsprivatisierung

Die Wochenzeitung „Freitag“ eröffnet eine Reihe, die sich mit Tendenzen beschäftigen wird, wie Bildung mehr und mehr den Charakter einer Ware annimmt. Die Beiträge werden einmal pro Monat erscheinen. Der erste Artikel erschien in der Ausgabe 28 am 7.7.06: Vom Menschenrecht zur Markenware von Clemens Knobloch
PRIVATISIERUNG DER BILDUNG
In Schulen und Universitäten regieren immer mehr die Gesetze des Marktes. Öffentliche Lernorte sind durch neoliberale Reformen und finanzielle Auszehrung bedroht
Die neoliberale Vermarktung der öffentlichen Bildungseinrichtungen hat in den letzten Jahren erheblich an Fahrt gewonnen. Je prekärer die beruflichen und ökonomischen Perspektiven breiter Schichten werden, desto besser lassen sich „Bildungsreformen“ verkaufen, scheint doch die „gute Ausbildung“ die beste und einzige Rückversicherung gegen die Wechselfälle eines harten globalen Arbeitsmarktes zu sein. Es ist freilich ironisch und paradox, dass ausgerechnet der traditionelle Bildungsaufstieg, der Berufschancen an öffentliche Bildungsdiplome bindet, als Motiv für Privatisierung und Entkopplung von Bildung und öffentlicher Hand herhalten muss. Denn am Ende dieser „Reformen“ wird Bildung kein öffentliches Gut mehr sein, über dessen politisch verantwortete Verteilung ein Stück Chancengleichheit hergestellt wird – sondern eine Markenware.
Beharrlich und Schritt für Schritt wird das öffentliche Bildungswesen in betriebswirtschaftliche Strukturen eingefädelt. Die Maßnahmen sind immer die gleichen, in reichen wie in armen Ländern: Freie Konkurrenz der Institutionen, freie Wahl der Bildungseinrichtungen durch die „Kunden“, freie Auswahl der „Kunden“ durch die Bildungseinrichtungen, Schulgeld und Studiengebühren oder Bildungsgutscheine, die an den Institutionen eingelöst oder in eine kostspieligere Ausbildung eingebracht werden können.

Bildung als Dienstleistung
Bei den Studiengebühren ist jetzt nach langer und vorsichtiger Annäherung die Schwelle überschritten. Das Publikum hat sich an den Gedanken Schritt für Schritt gewöhnen lassen. Die Stationen waren: Niemals – vielleicht – für Langzeitstudenten – für alle. Man darf davon ausgehen, dass jetzt auch die Beträge ins Purzeln geraten werden. Denn Obergrenzen sind natürlich staatlicher Dirigismus, wenn die Hochschulen einmal in die betriebswirtschaftliche „Autonomie“ entlassen sind. Symptomatisch ist das Verhältnis zwischen den noch öffentlichen und den schon privaten Hochschulen. Dass die Privatuniversität Witten/Herdecke ebenso wie die International University Bremen (IUB) pro Student weit mehr Geld aus dem Landeshaushalt erhalten als die öffentlichen Hochschulen, ist ebenso bekannt wie skandalös. Es ist auch ein Beleg dafür, dass Privatisierung öffentliche Politik ist und großzügigst aus Steuergeldern subventioniert wird. „Frei“ sind die Privaten in der Festsetzung ihrer Studiengebühren. Aber das ist noch nicht das Ende. Über die Liberalisierungen der Dienstleistungen in der EU (auch Bildung ist eine „Dienstleistung“) werden private Anbieter künftig darauf insistieren können, dass sie mit öffentlichen Anbietern gleichgestellt und letztere nicht konkurrenzverzerrend subventioniert werden. In der Folge wird der Druck wachsen, öffentliche Bildungseinrichtungen zu privatisieren oder die privaten den öffentlichen materiell gleichzustellen. Für die privaten Anbieter ist das eine win-win-Situation, für die öffentliche Bildung das Gegenteil.
Die staatliche Universität wird ausgehungert, das eingesparte Steuergeld macht die Privaten fetter. Und, merkwürdig genug, es schadet dem Ansehen der Marke Uni Witten/Herdecke gar nicht, wenn die fachliche Begutachtung (wie jüngst geschehen) es nahe legt, die Medizinausbildung zu schließen, weil sie den modernen Ansprüchen nicht genügt. Für eine öffentliche Universität wäre das ein Skandal ersten Ranges. Die Bezeichnung „Privatuniversität“ transportiert aber schon per se den Nimbus der Elite, gleich wie die Ausbildung dort tatsächlich aussieht. Es gibt viele Indizien, die anzeigen, dass bei den privaten Anbietern vor allem eine hoch entwickelte Fassadenkunst vorherrscht. Sie haben es eben gelernt, eine Marke zu bewerben. Eine private Medienhochschule in Hamburg verspricht ihren Studierenden (Jahresgebühr: 15.000 Euro) ganz dreist, dass man sie mit den Mächtigen und Einflussreichen der Branche zusammenbringen wird.
Parallel dazu werden die Bildungseinrichtungen betriebswirtschaftlichen Controlling-Prozeduren auf allen Ebenen unterworfen. Das geht so weit, dass zum Beispiel für Studiengänge festgelegt wird, dass sie geschlossen werden müssen, wenn sie eine bestimmte Studentenzahl unterschreiten. Das Regime der Kennzahlen ist sachzwangförmig und muss nicht politisch durchgesetzt werden. Kein Land hat bisher den Mut gehabt, eine Universität zu schließen. Warum auch, wenn man Bildungseinrichtungen viel eleganter in die Pleite entlassen kann?
Für diese Politik gibt es einen Auftrag. Aber nicht vom Wähler, sondern von der Firma Bertelsmann, die sich mit Hilfe williger Politiker den hoch expansiven und profitträchtigen Bildungsmarkt schafft, den sie einmal zu beliefern hofft.
Dass die Bertelsmann-Stiftung die vakante Position eines Bundesbildungsministeriums (manche sprechen sogar von einem „Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda“) zunehmend selbstbewusst besetzt, ist inzwischen nicht einmal mehr ein offenes Geheimnis, sondern ein Gemeinplatz. Wo Schulen, Hochschulen oder öffentliche Verwaltungen neoliberal umgebaut werden, braucht man nach der Bertelsmann-Stiftung nicht lange zu suchen. Dabei wirken die gewählten Akteure der Politik nicht einmal als Verführte oder Getriebene. Der Beobachter hat vielmehr den Eindruck von Lemmingen mit ausgeprägtem Todestrieb. Die Gewählten scheinen froh und glücklich, dass sie mit der Verantwortung für den Sozial- und Umverteilungsstaat gleich auch noch die Verantwortung für das öffentliche Bildungswesen loswerden. Schließlich haben sie ja den ganzen PISA-Ärger auszubaden. Dass sie damit auch die Quellen für die Legitimierung der eigenen Macht zum Versiegen bringen, scheint den wenigsten bewusst zu sein. Wir werden sehen, wie viel „Staat“ allein mit Armee und Polizei zu machen ist.
Ist es angesichts dieser Lage ein Wunder, dass die dienstbaren Geister des Hauses Bertelsmann nachgerade platzen vor Selbstbewusstsein und auch schon einmal die „Wir können auch anders“-Platte auflegen? Die Form der (gemeinnützigen und von der Steuer befreiten) Stiftung erlaubt es dem tragenden Konzern, seine langfristigen politischen und ökonomischen Interessen effizient zu vertreten, ohne dass er dabei überhaupt als interessierter Konzern auftreten muss.
Das stiftungseigene Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) spielt virtuos auf allen Manualen der öffentlichen Meinungsbildung. Sein Lieblingskind, die Studiengebühren (in NRW neuerdings als „Studienbeiträge“ rhetorisch geschönt), hat das CHE kurz nach seiner Gründung der Hochschulrektorenkonferenz zur Adoption angeboten. Die griff bekanntlich zu und ließ sich auch weiterhin inspirieren von einer durch das CHE inszenierten Umfrage, wonach sogar die Studierenden mehrheitlich Studiengebühren befürworteten. Den chronisch unterfinanzierten Hochschulen wurde systematisch der Mund wässerig gemacht, sollten sie sich doch eine Verbesserung ihrer finanziellen Situation errechnen können. So wurden in vielen Hochschulgremien die Studiengebühren schon verteilt, ehe sie noch erhoben wurden.
Noch erfolgreicher agiert die Bertelsmann Stiftung in der Schulpolitik. Interessant auch, dass der Arm des Medienriesen bis weit in die Gewerkschaften reicht und gerade auch in der Sozialdemokratie und bei den Grünen die Schulpolitik konzeptuell auf Vordermann bringt. Strategisch ist das wieder einmal erste Sahne. Gerade als „links“ und egalitär geltende Organisationen werden die Einführung von Schulgeld für die Sekundarstufe II (ebenfalls ein Lieblingskind der Bertelsmänner) glaubwürdig öffentlich vertreten können.
Vielfach flankiert wird Bertelsmann vom Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, der, nach dem Zweiten Weltkrieg als Stifterverband der Wirtschaft gegründet, heute fast das gesamte einschlägige Stiftungsvermögen der Privatwirtschaft als Lobbyorganisation verwaltet.

Rhetorik der Freiheit
Rhetorisch kommt der Markt immer als „Freiheit“. In NRW haben wir jetzt ein „Hochschulfreiheitsgesetz“, das die Universitäten (wie es in der vielfach bewährten Sprache heißt) noch leistungsfähiger und international wettbewerbsfähiger machen soll. „Freiheit“ zieht jetzt endlich auch in die Schulen des größten Bundeslandes ein. Durch die Auflösung der Schulbezirke können künftig Eltern auch die Grundschule ihrer Kinder frei wählen.
Die zweite Säule der neoliberalen Reformrhetorik verbindet Staat und Bürokratie mit der Verhinderung von „Öffnung“, „Wettbewerb“ und „notwendigen Reformen“. Kapitalisiert wird an dieser Front die wachsende öffentliche Unzufriedenheit mit den Zuständen im öffentlichen Bildungswesen. Dessen materieller und reputativer Ruin ist durchaus Teil der Strategie. Jeder Schulskandal von PISA bis Rütli ist Wasser auf die Mühlen der Privatisierer. Wer alles Mögliche für den Bildungsaufstieg seiner Kinder tun möchte, der wird bei jedem Bericht über katastrophale Zustände an öffentlichen Schulen bereit sein, ein Stück tiefer in die eigene Tasche zu greifen. Und das Motiv, den Kindern eine „gute Ausbildung“ mit auf den Lebensweg zu geben, kann man unbesorgt in jede rhetorische Kalkulation einsetzen.
Jeder, der im Schul- oder Hochschulwesen tätig ist, kann freilich bestätigen, dass mit der wachsenden Lautstärke des auf allen Kanälen gespielten Freiheitsliedes zugleich auch die Kontroll- und Regelungsdichte überproportional zunehmen. Mit der „Freiheit“ kommt an den Gymnasien (in NRW) auch das Zentralabitur, außerdem ein ganzes Netz zentraler Leistungsprüfungen, die an den Schulen durchgeführt und ausgewertet werden müssen. Mit der Auflösung der Staatlichen Prüfungsämter für das schulische Lehramt kommt eine detaillierte Regelung aller Prüfungen und Zwischenprüfungen, die von den Hochschulen nun „autonom“ veranstaltet werden müssen. Je „freier“ das Personal an den Bildungseinrichtungen, desto schamloser werden die geforderten Unterwerfungsriten. Die Fiktion autonomer Akteure wird inszeniert im Gewande von Zielvereinbarungen zwischen den Bildungseinrichtungen und ihren (natürlich stets im Rückzug befindlichen) öffentlichen Trägern. Dabei legt sich die Bildungseinrichtung auf Ziele fest, über deren Bewältigung sie nicht die geringste Kontrolle ausübt (Studentenzahlen, Erfolgsquoten, Drittmittel, Doktorandenzahlen). Der Träger verspricht finanzielle Einbußen, wenn die vereinbarten Ziele nicht erreicht werden.
Zur erfolgreichen rhetorischen Implementierung neoliberaler Bildungspolitik gehört die Allgegenwart des „Ranking“ und „Rating“. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, wer an welchen Rangplatz gerät. Der erste muss strampeln, um seinen führenden Platz zu erhalten, und der letzte, um seinen Abstieg in die Regionalliga zu verhindern. Der Effekt ist immer der gleiche: die Zerstörung der gemeinsamen Interessen und die Befeuerung der Konkurrenz.

Kampf um beste Köpfe
Regelmäßig angestimmt wird auch das Lied von der Notwendigkeit effektiver Elitenbildung und Elitenförderung im Zeitalter der globalen Konkurrenz um „die besten Köpfe“, die natürlich verkümmern, wenn sie die Bildungseinrichtungen zusammen mit den viel zahlreicheren Holzköpfen besuchen müssen. Da nützt es wenig, daran zu erinnern, dass die anerkannt besten Bildungssysteme das gemeinsame Lernen prämieren. Da nützt es noch weniger, daran zu erinnern, was der Darmstädter Soziologe Michael Hartmann gezeigt hat: dass die deutschen Macht-, Geld- und Verwaltungseliten ein nahezu geschlossenes System der Selbstrekrutierung bilden. Die Durchlässigkeit nach unten geht gegen Null. Wie öffentlich über Eliten gesprochen wird, zeigt nur an, ob diese Selbstrekrutierung für legitim gelten soll oder für einen politischen Skandal.
Wer die Folgen abschätzen will, welche die neoliberale Revolution im Bildungswesen hervorbringen wird, wenn sie nicht auf entschiedenen politischen Widerstand stößt, braucht nicht viel Phantasie. Für die breite Masse wird jedwede berufsqualifizierende Ausbildung schlecht und teuer. Trotz wachsender Kosten für die „Kunden“ wird die Massenbildung chronisch unterfinanziert bleiben, weil sich die gewinnträchtigen Komplexe aus (kleiner, aber feiner) Markenuniversität, betuchtem Publikum und reichen Forschungsgeldern an wenigen Stellen konzentrieren werden. An allen anderen Stellen wird der Mangel mehr oder weniger effektiv verwaltet werden.
Es wäre natürlich albern, wollte man dem öffentlichen Bildungswesen bescheinigen, dass es die beste aller möglichen Welten hervorbringen hilft und die Chancengleichheit garantiert. Und natürlich kann es auch gute Privatschulen (meinethalben sogar gute Privatuniversitäten) geben. Fatal an der neoliberalen Privatisierungspraxis ist aber in jedem Falle der Umstand, dass die Verteilung von Chancen stärker an den Geldbeutel gebunden und der öffentlichen politischen Zuständigkeit entzogen wird. Für Bildungspolitik wird es am Ende gar keinen Adressaten mehr geben, wenn der Bildungsmarkt einmal durchgesetzt ist.
Ein kommerzielles Bildungssystem ist immer ein undemokratisches Bildungssystem. Dass mit der überbordenden Freiheitsrhetorik die demokratische Selbstverwaltung der Hochschulen restfrei entsorgt wird, dass die „Öffnung“ der Hochschule für die Gesellschaft faktisch ihre Auslieferung an das Kapital bedeutet, ist kein Zufall. Wo Ökonomie und Controlling regieren, ist jede Form von demokratischer Beteiligung ein schlechter Scherz. Von der verfassungsmäßigen Lehr- und Forschungsfreiheit bleibt dann nur, was der Hochschulrat befürwortet.

Sietmann in c’t ueber die Ketten der Wissensgesellschaft

Der Artikel in der Computerzeitschrift c’t widmet sich dem Kulturkampf über den Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Was „Open Source“ für die Softwareentwicklung, ist „Open Access“ (vgl. das Wikipedia-Stichwort Open Access) für die Wissenschaft – eine Bewegung, die sich für den freien Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen einsetzt. Politische Unterstützung findet sie hierzulande kaum. Die Wissenschaftler und ihre Organisationen müssen mit den Entwicklungen des Publikationswesens allein zurechtkommen.

Transformation netzgebundener Infrastrukturen und sozial-oekologische Entwicklung der Geschlechterverhaeltnisse

Ein kritischer Blick auf die Privatisierung im Bereich Verkehr (EU-Politiken zu „gemeinwirtschaftlichen Leistungen“ bzw. öffentlichen Dienstleistungen, sog. Bahnreform/Regionalisierung des ÖPNV etc.) zeigt: Sobald es um finanzstarke Sektoren bzw. netzgebundene Infrastrukturen geht, von denen alle abhängig sind und die erhebliche Auswirkungen auf jeden Alltag und Haus-/Versorgungsarbeit haben, finden sich keine feministischen Analysen, keine Daten oder vertiefenden Erkenntnisse aus der Perspektive der Gender Studies.
Eine der wenigen Ausnahmen: Anfang 2005 legte Meike Spitzner vom Wuppertal-Institut eine systematische Untersuchung im Verkehrsbereich für Deutschland und ein Gender-Analyse-Konzept für die Privatisierung von Infrastrukturen vor. Auch die Privatisierungen im Bereich Energie, Wasser und Telekommunikation lassen sich damit kritisch analysieren.

Spitzner, Meike (2004): Netzgebundene Infrastrukturen unter Veränderungsdruck – Gender-Analyse am Beispiel ÖPNV. Untersuchung zur sozial-ökologischen Regulation netzgebundener Infrastruktursysteme: Transformationen des Öffentlichen Personennahverkehrs und sozial-ökologische Entwicklung der Geschlechterverhältnisse“. Untersuchung im Auftrag des Verbundforschungsprojekts „Sozial-ökologische Regulation netzgebundener Infrastruktursysteme“ des Forschungsverbunds netWORKS im BMBF-Förderschwerpunkt „Sozial-ökologische Forschung“, Themenschwerpunkt 2 „Sozial-ökologische Transformationen im Ver- und Entsorgungssektor (STRIVE)“. Schriftenreihe NetWORKS-Papers Nr.13. Berlin: Deutsches Institut für Urbanistik (Difu). ISBN 3-88118-384-1.

Es gibt die Studie zum download. Weitere Studien auf der einer und einer zweiten Publikationsliste.

Meike Annamarie Spitzner ist Projektleiterin der Forschungsgruppe Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik und zuständig für die wissenschaftliche Koordination „Gender“ am Wuppertal Institut für Klima•Umwelt•Energie GmbH im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen und erreichbar per Telefon (++49-202-2492-151 (Sekr: -184) (Fax: -263)) und per email.

Veranstaltung am 9.5.06 in Berlin

Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, der Umweltbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz und das Gen-ethische Netzwerk laden ein:
Gentech-Anbau in Brandenburg – Was droht? Erfahrungen aus Kanada – aktuelle Situation in Brandenburg
mit Percy Schmeiser (kanadischer Landwirt, in englischer Sprache mit Übersetzung) und Nora Mannhardt (Aktionsbündnis gentechnikfreies Berlin/Brandenburg)
am Dienstag, 9.5.2006 um 19:00 Uhr
im „Umweltforum Berlin“ (Alte Mälzerei)
10249 Berlin-Mitte, Friedensstrasse 91. ( http://www.umweltforum-berlin.de )

Percy Schmeiser spricht in Englisch, die Veranstaltung wird übersetzt.

Aus dem Einladungstext

Brandenburg ist in Deutschland das Land, in dem die transgenen Saaten ausgebracht werden. Für dieses Jahr sind etwa 800 Hektar (Deutschland ca. 1.700 ha) angemeldet. Die Situation in Brandenburg wird Nora Mannhardt vom Aktionsbündnis gentechnikfreies Berlin und Brandenburg darstellen. Was sind möglicher Gründe, wie organisiert sich der Widerstand?

Die Koexistenz konventioneller, ökologischer und gentechnisch veränderter Nutzpflanzen ist nicht möglich. Dies zeigen die Erfahrungen mit Kontaminationen in Kanada. Dort wird es vermutlich niemals mehr möglich sein, gentechnikfrei zu produzieren. Einige der dortigen Landwirte hat dies schon an den Rand des Ruins getrieben.

Percy Schmeiser, kanadischer Rapsbauer, berichtet über 10 Jahre Gentech-Anbau in Kanada und zeigt die Praktiken der Gentechnik-Konzerne auf. Schmeisser hatte den Gentechnik-Konzern Monsanto wegen Kontamination seiner Felder verklagt. Weil die kanadische Regierung und die Justiz voll auf der Seite der Gentechnik-Konzerne stehen, wurde in seinem und in vielen anderen Fällen gegen geltendes Recht und zugunsten der Industrie entschieden.

Der Fall verdeutlicht auch die Zusammenhänge zwischen Koexistenz, Kontamination und den so genannten Schutzrechten an geistigem Eigentum, das heißt der Patentierung – das heißt der Privatisierung von Saatgut.

Kanadische Farmer bringen Gentechnik vor UN-Menschenrechtsausschuss: Nun erhebt der kanadische Farmer Percy Schmeiser vor dem UN-Ausschuss für Menschenrechte in Genf Klage gegen die kanadische Regierung wegen Menschenrechtsverletzungen durch die Gentechnik in der kanadischen Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion (Stichtag 1. Mai 2006).

+++++++++++++
*In Kanada ist der Zug gentechnikfreier Produktion bereits abgefahren – aber bei uns ist es noch nicht zu spät!*
+++++++++++++

Hier ein Interview mit Percy Schmeiser aus der Mitgliederzeitschrift Umweltnachrichten (Dez. 2005) des Umweltinstitutes München. Das Interview führte Andreas Bauer.

Interview mit Landwirt Percy Schmeiser: „Eine ökonomische Katastrophe”

Im August 1998 verklagte der Gentechnik-Konzern Monsanto den kanadischen Bauer Percy Schmeiser, gentechnisch verändertes patentiertes Raps-Saatgut widerrechtlich angebaut zu haben: Schmeisers konventionelle und die Bio-Felder seiner Frau waren von genverändertem Saatgut verunreinigt. Zwei Gerichte verurteilten ihn zu einem Schadensersatz in Höhe von 100.000 Euro. Erst das oberste kanadische Bundesgericht stoppte den Konzern im Jahr 2004: Schmeiser wurde von Schadensersatzforderungen an den Konzern freigesprochen. Doch gleichzeitig befand das Gericht, dass Monsanto grundsätzlich im Recht sei und die Patentansprüche des Konzerns auch für kontaminierte Äcker gälten. 2005 hat Percy Schmeiser Gegenklage gegen Monsanto eingereicht, wegen Umweltverschmutzung und Zerstörung von Schmeisers gentechnikfreier Saatgutzüchtung.

Umweltinstitut München e.V. (UIM): Mr. Schmeiser, wie sind Ihre derzeitigen Beziehungen zu Monsanto?
Schmeiser: Ziemlich angespannt. Monsanto versuchte während der letzten Jahre, mich als Person zu diskreditieren, sowohl in den Medien als auch in meiner persönlichen Umgebung. Und das macht Monsanto nach wie vor. Zum anderen versuchen sie jetzt, mich mit Hilfe einer Knebel-Anordnung, der so genannten „Gag-Order“, ruhig zu stellen. Das ist eine Art gerichtlich verhängtes Redeverbot. Dadurch wäre mir das Recht genommen, über Monsanto zu sprechen. Dabei ist das einzige, was ich tue, darüber zu berichten, dass Monsanto mein gesamtes Ackerland kontaminiert hat.

UIM: Dagegen haben Sie jetzt Klage eingereicht.
Schmeiser: Ja, aber leider agiert Monsanto jetzt bösartiger als je zuvor. Der Grund ist meiner Meinung nach, dass der Konzern allein im letzten Quartal 125 Millionen US-Dollar Verlust gemacht hat. Und zwar ausschließlich deshalb, weil es sich, wie ein Journalist geschrieben hat, um eines der meistgehassten Unternehmen der Welt handelt, ein Unternehmen, das zentral an der Eliminierung der Rechte der Bäuerinnen und Bauern, und der Redefreiheit auf der ganzen Welt beteiligt ist. Letztes Jahr wurde Monsanto für die Dauer von zwei Jahren die Geschäftsausübung in Indonesien verboten, weil der Konzern für eine schnelle Zulassung von gentechnisch veränderten Pflanzen die Behörden bestochen hatte. Auch in anderen Ländern gab es Korruption im Zusammenhang mit der Vermarktung von Monsantos Gen-Pflanzen.

UIM: Weswegen genau klagen Sie Monsanto an?
Schmeiser: Die erste Klage bezieht sich auf die Haftung für die Verunreinigung meiner Felder mit Genraps in den Jahren 1997 und 1998. Ich fordere Schadensersatz für die Zerstörung meines selbstentwickelten Raps-Saatguts, in dem 50 Jahre Forschung und Entwicklung stecken.
Vor zwei Monaten stellte ich zudem eine erneute Kontamination meiner Felder fest. Ich versuchte, Monsanto dazu zu bewegen, die Genrapspflanzen von meinem Feld zu entfernen. Monsanto war dazu nur unter der Bedingung bereit, dass ich einen so genannten „Release“ -Vertrag unterzeichne. Damit hätte ich allerdings für alle Zeiten Grundrechte, wie das auf freie Meinungsäußerung, an Monsanto verkauft. Der Vertrag hätte besagt, dass ich Monsanto nie wieder verklagen darf. Zweitens hätte ich auch alle bereits eingereichten Klagen gegen Monsanto zurückziehen müssen. Drittens hätte ich Zeit meines Lebens mit keinem Menschen mehr über Monsanto sprechen dürfen.
Zusätzlich hätte mir der Vertrag verboten, Raps und verwandte Arten, also zum Beispiel Senf, anzubauen. Denn Monsanto weiß, dass es dadurch erneut zu Kontaminationen meiner Felder durch gentechnisch veränderte Rapspollen kommen würde, der auch in verwandte Arten, wie eben Senf, auskreuzen kann. Kurzum, ich hätte sämtliche demokratische Rechte an der Eingangstür von Monsanto abgegeben. Ich bin Besitzer des Landes, ich zahle Steuern dafür, und alle Rechte dafür sollen an Monsanto gehen?
Wenn ich nach St. Louis, zur Konzernzentrale von Monsanto, fahren würde, um ihre Freilandversuche zu kontaminieren, und danach die Rechte auf diese Pflanzen reklamieren würde, hätte ich nach spätestens 24 Stunden ein Verfahren am Hals, das damit enden würde, dass man mich bis ans Ende meiner Tage einsperren würde.
Das Problem ist nach wie vor, dass die Menschen nicht darüber informiert sind, was passiert. In Kanada kann aufgrund der gentechnischen Verunreinigungen keine biologische Soja und kein biologischer Raps mehr angebaut werden. Das Grundrecht der Wahlfreiheit der Bauern ist zerstört.

UIM: Welche ökonomischen Auswirkungen hat der Anbau von Genpflanzen in Kanada?
Schmeiser: Der Anbau ist eine ökonomische Katastrophe. Viele Länder kaufen keine kanadischen Produkte mehr, die in irgendeinem Zusammenhang mit Raps oder Soja stehen könnten. Das betrifft neben den Bauern natürlich auch die nachgelagerten Industrien, also die Lebensmittelverarbeitung. Darüber hinaus kommt es zu einer Art Dominoeffekt: Auch die Nachfrage nach anderem Getreide aus Kanada ist zurückgegangen. Ganz konkret passiert folgendes: Die Rapserträge der kanadischen Bauern sind zurückgegangen, die Erträge sind von geringerer Qualität, für die Produktion müssen mehr Pestizide eingesetzt werden und das Einkommen der Bauern ist stark zurückgegangen. Durch die flächendeckende Kontamination ist auch die Wahlfreiheit der Bauern verloren.

UIM: Wie sieht es mit der sozialen Struktur in den ländlichen Gebieten aus? Hat sich auch diese durch den Anbau von GVO verändert?
Schmeiser: Auch das soziale Gefüge ist entgleist. Durch die Lizenzverträge mit Monsanto verlieren die Bauern das Grundrecht auf Redefreiheit. Die gesetzliche Lage verstärkt ihre Rechtlosigkeit noch zusätzlich. Sie müssen sehen, dass ein Bauer in Kanada in dem Moment schuldig gesprochen werden kann, wenn Monsantos Genraps auf seinem Feld gefunden wird. In meinem Fall hat das Gericht geurteilt, dass ein Bauer verpflichtet ist zu wissen, ob seine Ernte, sein Saatgut, oder sein Land mit Monsantos Genpflanzen kontaminiert ist. Wenn er nicht gentechnisch verändertes Saatgut aus einem Teil seiner Ernte anbaut, das mit Monsantos Genraps verunreinigt ist, verletzt er damit automatisch Monsantos Patent und kann von dem Konzern verklagt werden. Der einzige Ausweg besteht darin, gleich Monsantos Raps anzubauen. Denn in dem Moment, in dem sich Monsantos Gene auf seinem Feld befinden, kann Monsanto ihn dazu zwingen, seine gesamte Ernte zu vernichten. Wie soll ein Bauer wissen, ob sich Monsantos Raps auf seinem Feld befindet? Die einzige Möglichkeit, die er hat, ist sein Feld mit Roundup zu spritzen: Wenn 98 Prozent seiner Pflanzen sterben, und zwei Prozent überleben, weiß der Bauer, dass zwei von 100 Pflanzen kontaminiert sind. Doch es gibt keinerlei Toleranz. Selbst eine einzige Pflanze würde genügen, um alle Rechte an Monsanto zu verlieren. Das Gericht sprach im Urteil meines Falls davon, dass die „bloße Anwesenheit“ von Monsantos patentierten Genpflanzen auf meinem Acker ausreichen würde, um Monsantos Ansprüche zu rechtfertigen. Der oberste kanadische Gerichtshof urteilte auch, dass es bedeutungslos sei, wie es zu der Verunreinigung der Felder kommt.

UIM: Hat sich auch das Verhältnis der Landwirte untereinander verändert?
Schmeiser: Natürlich. Es ist ein starkes Misstrauen gegeneinander entstanden. Der Grund ist, dass Monsanto Bauern oder andere Leute dafür belohnt, wenn sie z.B. einen Nachbarn anzeigen. Zudem besitzt Monsanto eigene „Polizei“-Kräfte, welche die Menschen auf dem Land aushorchen. Ich erzähle ihnen ein Beispiel aus meinem Dorf: An Tankstellen in Kanada werden auch Pestizide verkauft. Monsantos Leute gingen also zu einer Tankstelle in meinem Dorf und sagten dem Besitzer: „Sprich mit den Bauern, frag sie ob sie Raps gepflanzt haben. Falls sie Raps anbauen, frag sie, wie viele Hektar. Dann gib uns diese Informationen weiter.“ Im Gegenzug bekam der Tankstellenbesitzer gute Konditionen und Rabatte beim Einkauf der Pestizide von Monsanto. Das ist ein Weg, wie Monsanto an Informationen kommt. Seit diese Geschichte bei mir im Dorf herauskam, tanke ich natürlich woanders.

UIM: Können Sie noch von weiteren Fällen berichten?
Schmeiser: Es gibt viele bekannte Fälle. Einem befreundeten Geschäftsmann, der auch Bauer ist, passierte folgendes: Er baute 200 acre (80 ha) von Monsantos Genraps an und schloss mit dem Unternehmen einen so genannten Technologie-Vertrag über diese Fläche ab. Dieser sieht vor, dass ein Bauer pro acre 15 kanadische Dollar Patentgebühren an Monsanto zahlen muss. Bei seiner Versicherung waren die entsprechenden Flächen jedoch mit 208 acre veranschlagt. Monsantos Spitzel müssen auf irgendeine Weise Zugang zu diesen Unterlagen bekommen haben. Es fehlten also acht acre, und laut dem Technologie-Vertrag hatte er damit eine Lizenzgebühr von 15 Dollar pro acre unterschlagen, was einem „Gesamtschaden“ von 120 Dollar entspricht. Monsanto wollte jedoch eine Strafgebühr von 200 Dollar pro acre kassieren, die mein Bekannter natürlich nicht zahlen konnte. Monsanto verlangte nun für einen Verzicht auf ein Strafverfahren, dass mein Bekannter ebenfalls Spitzeldienste übernehmen sollte und Nachbarn melden, die von Kontaminationen wussten, diese aber aus Angst vor den finanziellen Forderungen Monsantos nicht melden wollten. Er ist darauf eingegangen, hat aber nie jemanden gemeldet.
Ich erzähle Ihnen noch von einem dritten Fall: Wenn Sie in Kanada Getreide verkaufen, müssen Sie Aufzeichnungen darüber in einem Buch dokumentieren. Dieses Buch ist Privatbesitz des Bauern. Da diese Aufzeichnungen von großer Wichtigkeit sind, hinterlegen es viele Bauern im Safe des örtlichen Getreidehändlers. Monsanto lädt nun diese Getreidehändler zu Wochendausflügen oder zum Essen ein und kommt so schließ-lich in den Besitz der Aufzeichnungen. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was diese Vorfälle mit dem sozialen Netz auf dem Land anrichten.

UIM: Der Presse kann man entnehmen, dass sich kanadische Bauern, vor allem Biobauern inzwischen wehren. Sie haben Genkonzerne wie Monsanto und Bayer verklagt. Wie beurteilen Sie die Aussichten, dass die Konzerne schuldig gesprochen werden?
Schmeiser: Die Vereinigung der Biobauern aus Saskatchewan (das Saskatchewan Organic Directorate) hat Monsanto und Bayer wegen der Kontaminationen auf Schadensersatz verklagt. Die Klage bezieht sich auf die Haftung für entstandene ökonomische Schäden, vor allem den Verlust von Exportmöglichkeiten, da kein biologischer Raps mehr angebaut werden kann. In erster Instanz haben die Bauern den Prozess verloren. Im Moment droht er bereits an der Frage zu scheitern, ob die Bio-Bauern als Vereinigung überhaupt das Recht haben, diese Klage einzureichen. Monsanto versucht den Prozess zu verschleppen. Schon jetzt hat er die Bio-Bauern 300.000 Dollar gekostet. Allein für die Frage nach der Zulässigkeit der Klage sind drei Jahre ins Land gegangen.

UIM: Welche Rolle spielt eigentlich die kanadische Regierung?
Schmeiser: Die kanadische Regierung unterstützt die Gentechnikindustrie bedingungslos. Monsanto arbeitet mit den zuständigen Behörden, z.B. der Lebensmittel- oder der Umweltbehörde, Hand in Hand. Ein Beispiel vom April 2004 mag Ihnen zeigen, wie eng die Verbindung ist. Monsanto stand damals kurz vor der Zulassung von gentechnisch verändertem Weizen. Dann kam heraus, dass die Regierung mit Monsanto ein Abkommen geschlossen hatte: In dem Vertrag stand, dass die Regierung für jedes Kilo Genweizen einen bestimmten Prozentsatz des Gewinns erhalten sollte.
Derzeit stehen wir in Kanada auch vor einer Überarbeitung der Saatgut-Gesetzgebung, dem Seed Sector Review. Die Vorschläge der Gentechnikindustrie für dieses Gesetz wurden bislang nur noch nicht umgesetzt, weil Wahlen bevorstanden. Mit diesem Gesetz würde die Saatgutindustrie die totale Kontrolle über die Landwirtschaft übernehmen. Denn der zentrale Punkt des Gesetzes ist, dass es den Nachbau von gekauftem Saatgut schlichtweg verbietet. Dieser Passus bezieht sich nicht nur auf Getreide, sondern auch auf Gartenblumen oder Bäume. Damit würden nicht nur Bauern, sondern auch Gärtner und Forstwirte total entrechtet. Die Industrie versucht, dieses Gesetz ohne öffentliches Aufsehen durchzubekommen. Die Situation ist sehr ernst.
Und dennoch: Seit einigen Jahren stockt die Zulassung neuer Gentechnikpflanzen. Bis heute gibt es nur sehr wenige kommerzialisierte Arten, vor allem Raps, Mais, Soja und Baumwolle. Was die Einführung weiterer GVO verhindert hat, war nicht die Umweltproblematik und nicht die gesundheitlichen Effekte, sondern der grandiose ökonomische Misserfolg. Die Bauern merken langsam, dass sie betrogen wurden.

UIM: Warum wächst die Anbaufläche in Kanada dann nach wie vor? Warum bauen die Bauern überhaupt noch gentechnisch verändertes Saatgut an?
Schmeiser: Viele haben Angst. Sie wissen, dass sie von Monsanto jederzeit verklagt werden können, denn ihre Felder sind genauso kontaminiert wie meine. Der einzige Ausweg sich vor Klagen zu schützen ist gleich Monsantos Genpflanzen anzubauen.

Das Interview führte unser Mitarbeiter Andreas Bauer.
Erschienen in unserer Mitgliederzeitschrift Umweltnachrichten, Ausgabe 102 / Dez. 2005

„Was damit geschaffen wird, ist eine Kultur der Angst“
Am 28. Oktober 2005 hielt Percy Schmeiser in Zürich den Vortrag, denn Sie hier ( http://www.umweltinstitut.org/download/vortrag_schmeiser_zuerich_okt2005.pdf ) als PDF-Datei herunterladen können.

Technologievertrag in Originalfassung und übersetzt als PDF-Datei zum Herunterladen ( http://www.umweltinstitut.org/download/technologievertrag_monsanto.pdf )

Konferenz fordert Zugang zum Wissen statt Privatisierung des geistigen Eigentums

An der renommierten Jura-Fakultät der Universität Yale findet eine Konferenz über den Schutz des freien Zugangs zu Wissen statt. Die Veranstaltung „Access to Knowledge (A2K)“ soll Forscher, Denker und Aktivisten zusammenbringen, um Vorschläge für die zukünftige Politik zu erarbeiten und Forschungspläne zu entwickeln. Heise dazu >>> dazu.

Die Privatisierung der Hochschulmedizin

ist das Thema des ersten deutschen Hochschulrechtstages, der am 16.6. in Erlangen stattfindet. Da auf dem Programm neben Vertretern verschiedener privatisierungsbefürwortender Staatlichkeiten auch Kontrahenten  u.a. aus Anlaß der Privatisierung der Marburg-Gießener Kliniken zu Wort kommen (wie auch z.B. Ulrike Beisiegel für den Medizinausschuss des Wissenschaftsrates), kann dies eine wichtige Veranstaltung zur Sache sein.

Kraeuter: Arznei oder Lebensmittel?

In Brandenburg dürfen Bauern keine Kräutertees mehr produzieren und verkaufen. Begründung: Nach dem Arzneimittelgesetz bräuchten sie dazu eine pharmazeutische Ausbildung. Grüne: Damit wird die Verwertung traditionellen Wissens monopolisiert.
Für die taz von MARINA MAI aus Belzig:
Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker, heißt es. Weil er weder Arzt noch Apotheker ist, darf Landwirt Thomas Beutler keine Tees mehr produzieren und verkaufen, die Risiken und Nebenwirkungen haben könnten. Insgesamt elf Kräuter wie Birkenblätter, Malvenblüten, Frauenmantelkraut und Hirtentäschel hat das Brandenburgische Gesundheitsministerium als Arzneimittel statt als Lebensmittel eingestuft. Bauern ist damit die Produktion untersagt. Was wie eine Provinzposse begann, beschäftigt jetzt auch den Deutschen Bundestag. Die bündnisgrüne Abgeordnete Cornelia Behm hat einen schriftlichen Bericht der Bundesregierung über Kräuter vom Bauern angefordert. Auch im Agrarausschuss ist das Thema angemeldet.
Bisher hatte Beutler, der im brandenburgischen Belzig lebt, die Wiesen und Wälder der dünn besiedelten Fläming-Region nach diesen Kräutern abgesucht. Die Tees bot er als regionaltypische Produkte in Touristenshops an. Nicht als Einziger. Auch dem Inhaber eines großen Fruchthofs ist beispielsweise untersagt worden, Zitronenmelisse an Fruchtgelees zu mischen. Beutler wehrt sich juristisch gegen das Verbot. Das Ministerium hat gegen ihn Strafanzeige wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz erstattet.
Aus anderen Bundesländern sind keine vergleichbaren Fälle bekannt. Doch Brandenburg hat sich mit einer bundesweiten Umfrage abgesichert: Demnach soll die Mehrheit der Länder die Brandenburger Einordnung der Kräuter als Arznei mittragen.
Das will die Grüne Cornelia Behm nicht einfach hinnehmen. Es könne nicht sein, „dass viele Kräuter, die seit Jahrhunderten ganz selbstverständlich verwendet werden, nicht mehr von kleinen bäuerlichen Betrieben, sondern nur noch von Pharmazeuten produziert und vertrieben werden dürfen“. Der Bericht der Bundesregierung soll in nächster Zeit vorliegen. Behm: „Ob die Brandenburger Praxis dann Bestand hat, wird sich ja zeigen.“
Brandenburgs Gesundheitsstaatssekretär Winfrid Alber (SPD) verteidigt das Kräuterverbot. „Johanniskraut, Weißdornbeeren und die anderen anstehenden Kräuter fallen unter das Arzneimittelgesetz, weil sie bundesweit eine Standardzulassung als Arzneimittel haben“, hatte er im Februar erklärt. Behörden hätten deshalb „keinerlei Ermessensspielraum, einen Vertrieb als Lebensmittel zu gestatten“. Lediglich bei einem verbotenen Kraut, dem Spitzwegerich, sei sein Ministerium zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen und müsse die Rechtslage erneut prüfen. Inzwischen will sich das Brandenburger Gesundheitsministerium zum Kräuterverbot allerdings nicht mehr öffentlich äußern, erklärte eine Sprecherin.
Landwirt Beutler vergleicht seine Situation mit der von Bauern in Staaten der Dritten Welt. „Dort gibt es immer wieder Versuche der Pharmaindustrie, Pflanzen und traditionelles Heilwissen zum Patent anzumelden, um sich ein Monopol zu sichern.“ In Deutschland brauche die Pharmaindustrie nicht einmal ein Patent. „Es reicht eine Standardzulassung als Arzneimittel“, so Beutler. „Dann schaffen Ministerialbeamte den Pharmabetrieben lästige Mitbewerber vom Hals.“
Um Arzneimittel produzieren zu dürfen, benötigt ein Betrieb eine Anzeige beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte und eine spezielle Herstellungserlaubnis vom Land. Dazu sind nach Auffassung der Brandenburger Behörden pharmazeutisch ausgebildetes Personal und spezielle räumliche Voraussetzungen erforderlich. Beutler hält diese Investitionen für bäuerliche Kleinbetriebe schlicht für nicht machbar.
taz vom 8.4.2006, S. 8, 121 Z. (TAZ-Bericht), MARINA MAI