Bill Emmott, Chefredakteur des Londoner Wirtschaftsmagazins Economist, schrieb vor 16 Jahren ein vorausschauendes Buch. Sein Titel: Die Sonne geht auch unter. Darin analysierte der Journalist schon vor dem großen Börsencrash in Tokyo die Grenzen und Schwächen des japanischen Wirtschaftswunders. Vergangene Woche hat Emmott einen 18-seitigen Report in seiner Zeitung wieder Japan gewidmet. Die Überschrift diesmal: Die Sonne geht auch auf. Soll heißen: Japans Talfahrt ist vorbei. Emmott glaubt, das Land habe sich im Schneckentempo der letzten Jahre nachhaltig liberalisiert, die Hauptbürden der Vergangenheit – Korruption und die Tradition lebenslanger Beschäftigung – abgeschüttelt und stehe nun vor einer neuen Wachstumsphase.
Wie tiefgreifend sich Japan verändert hat, zeigt das Gesetz zur Privatisierung der staatlichen Post, das nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen am Dienstag vom Tokyoter Unterhaus gebilligt worden ist und am Freitag durch ein zweites Votum, diesmal durch das Oberhaus, endgültig verabschiedet werden soll. Der gesamte Wahlkampf bis Anfang September war in Japan von diesem Thema bestimmt. Und dieses Thema war es letztlich auch, das Junichiro Koizumi, dem entschiedensten Verfechter der Postprivatisierung, zu einer triumphalen Wiederwahl als Premierminister verholfen hat. Zwar mahnt Emmott in seinem Artikel vor zu hohen Erwartungen in Hinblick auf die Reform: »Die Privatisierung der Postsparkasse wird Japan nicht auf zauberhafte Art und Weise in eine Wachstumsökonomie verwandeln.« Dennoch ist sie für japanische Verhältnisse geradezu revolutionär.
Als Koizumi als junger Abgeordneter der praktisch ohne Unterbrechung regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) Anfang der achtziger Jahre erstmals die Postprivatisierung forderte, machte er sich damit zum Außenseiter in seiner Partei. Schließlich sicherte die sich dank der Post einen Großteil ihrer Macht im Lande. 1992, während einer Parteikrise, wurde Koizumi gleichwohl Postminister. Doch seit wann können Minister in Japan ihren Ministerialbeamten Befehle erteilen? Koizumi blieb als Minister einflusslos. 2001, während einer der zahlreichen Parteikrisen, wurde er Premierminister und nahm den Kampf auf. Doch wieder hielt die Partei ihn hin. Erst 2004 ging Koizumi aufs Ganze. Er beauftragte seinen besten Mann, Wirtschaftsminister Heizo Takenaka, mit der Vorbereitung der Privatisierung. Der zögerte nicht und entwarf ein so radikales Gesetz, dass die Partei es im Parlament Anfang August ablehnte. Koizumi tobte, berief Neuwahlen ein. Und gewann.
Sein Sieg gleicht einem Sieg Japans über sich selbst.
Bereits 1871 wurde die japanische Post im Zuge der ersten Anfänge der Öffnung Japans zum Westen gegründet. Damals übernahm die Armee das preußische Militärwesen. Manufakturen nach englischer Art wurden gegründet, und auch die neuen roten Briefkästen, die ihre Farbe nie änderten, folgten dem englischen Vorbild. Doch ansonsten blieb die Post von ihrer Gründung bis heute die traditionellste aller Institutionen im modernen japanischen Staatswesen.
Der Grund dafür liegt in der Konstruktion der Post. Die Regierung in Tokyo hatte die Gründung und Bestellung ihrer Postämter, anfangs mangels Geld und Infrastruktur, den alten Großgrundbesitzerfamilien übertragen. So wurde das Postamt zur informellen lokalen Herrschaftsinstanz im ländlichen Japan. Es blieb stets im Familienbesitz, gestützt von einem Franchising-System, in dem der Staat Löhne garantiert und die Vererbung der Konzession des Postbetriebs an nachfolgende Generationen erlaubt. Heute sind viele Amtsleiter bereits Diener des Staates in der dritten oder vierten Generation. Ihre Familien regieren Dörfer und Kleinstädte. Sie verwalten neben der Post den lokalen Wohlfahrtsverein und kümmern sich um alte Leute. Ihre Briefträger sind Seelsorger. Bei Bedarf führen sie den Wahlkampf der Liberaldemokraten. »Das Postamt in Japan ist wie die Kirche in Irland oder Polen«, sagt Kenneth Courtis, Vize-Präsident der US-Investmentbank Goldman Sachs in Tokyo.
18935 Ämter werden von Familien geführt – ihr Einfluss ist groß
Offiziell gliedert sich die Post in drei Geschäftsbereiche: in das Brief- und Paketgeschäft, die Postsparkasse als Anlageoption vor allem für die Klein- und mittleren Verdiener und den Verkauf von Lebensversicherungen. Was sie, im Gegensatz zur ehemals staatlichen deutschen Postbank, nicht darf: Kredite vergeben. Doch blieben die japanischen Sparer der Post treu, weil das Land immer wieder Pleiten privater Banken erlebte: erst in den 20iger Jahren, dann nach dem Krieg, zuletzt zu Beginn der neunziger Jahre. Bei der Post, so glauben die Japaner unverändert, ist ihr Geld am sichersten aufgehoben. Wenngleich immer noch Milliarden unter der Bettmatratze, sprich: unter dem Tatami verwahrt werden.
Postämter sind in Japan so verbreitet wie Sushi-Läden. 18935 »speziell« genannte Postämter, die auf dem alten Großgrundbesitzermodell basieren, zählt das Land. 4470 Ämter gründen auf Landkooperativen, nur 1310 weitere wurden vom Staat selbst in den großen Städten errichtet. »Seit 1871 sorgt die Post für den Zugang zu Informationen, Warentransport, Finanzen und Verwaltung. Sie ist die Basis des Lebens. Sie ist fürs Volk und die lokale Gemeinschaft wie die Luft, die man zum Leben braucht.« Das ist der Anspruch, wie ihn die japanische Post mit ihren 400000 Angestellten noch heute in einer Werbebroschüre formuliert.
3,4 Billionen Dollar Einlagen – eine Geldquelle für die Regierung
Die enge Verbindung zwischen Politik und Post resultiert aus dem zweiten Weltkrieg. Das Finanzministerium war in den Jahren der Kampfhandlungen angehalten, unermesslich große Summen in die Rüstung zu pumpen. Deshalb wurde die Postsparkasse gezwungen, mit ihren Spareinlagen diese Milliardenausgaben über den Kauf von Staatsanleihen zu finanzieren. Das System war so erfolgreich, dass es nach dem Krieg fortgesetzt wurde. Seither verfügt Japan über einen »zweiten Staatshaushalt«, wie es im Jargon des Tokyoter Finanzministeriums heißt. Bis heute ist die Post der größte Abnehmer japanischer Staatsanleihen. Eine nahezu unversiegbare Geldquelle für die Regierenden.
Denn die japanische Postsparkasse ist seit Jahrzehnten die größte Bank der Welt. Heute verfügt sie mit Einlagen von 3,4 Billionen Dollar über mehr als ein Drittel aller Spar- und Lebensversicherungseinlagen in Japan. Das entspricht rund zwei Dritteln des Bruttosozialprodukts in der immerhin zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt. Über die Verwendung dieser Summen entschied bis 2001 allein das Finanzministerium. Es ließ mit dem »zweiten Haushalt« Brücken und Straßen bauen, zwei Drittel der japanischen Küste wurden einzementiert, jede Großstadt bekam ein Fußballstadion, jede Kleinstadt eine Mehrzweckhalle. Politiker durften sich für diese Taten rühmen und die Bauunternehmen für die Aufträge bedanken. »Der japanische Finanzsozialismus finanzierte sich über Postsparkasse und Postversicherung«, sagt Jesper Koll, Chefökonom der US-Investmentbank Merrill Lynch in Tokyo.
Schuldner der Postsparkasse ist allein der Staat. Im Prinzip kann Japan damit leben. Als größte Kreditgebernation der Welt, die heute wieder über gesundetes Bankensystem verfügt, steht Tokyo derzeit finanzpolitisch nicht unter Druck. Doch die Hypotheken auf die Zukunft des Landes sind hoch. Die Verschuldung des Staates wächst in diesem Jahr erneut um mehr als sechs Prozent, bis 2009 könnte Japan mit 200 Prozent seines Bruttosozialprodukts rote Zahlen schreiben. Hinzu kommt das ungelöste Problem der Pensionskassen, in denen sich mit der Verrentung der Babyboom-Generation in den nächsten Jahren riesige Lücken auftun werden. Dafür sieht die Koizumi-Regierung heute nur eine Lösung: den Verkauf der Post. Das sozialpolitische Netzwerk der Post interessiert sie deshalb nicht mehr. Und dank neuer Wählerschaften in den Städten muss die LPD heute einen Machtverlust weniger als früher scheuen, wenn sie die alten Großgrundbesitzstrukturen auf dem Land aufgibt.
Wie aber soll das funktionieren: die Privatisierung eines Finanzriesen mit Geldern in Höhe von zwei Dritteln des Bruttosozialprodukts? In vier Bereiche will Koizumi die Post splitten: in den Postamtbetrieb, den Brief- und Paketdienst, die Sparkasse und das Lebensversicherungsgeschäft. Doch erst einmal hat sich die Regierung zwölf Jahre lang Zeit gegeben: Erst 2017, so steht’s im neuen Gesetz, soll die Privatisierung der japanischen Post abgeschlossen sein. Weil an schnelle Lösungen nicht zu denken ist. Ohnehin sind private Banken und Versicherungen in Japan nicht an einer durch neue Investoren gestärkten Post interessiert. Sie verlangen die Zerschlagung und Auflösung der Post, in der sie immer einen vom Staat unfair bevorteilten Wettbewerber sahen.
Der Trend ist klar. »Der Staat zieht sich zugunsten des privaten Sektors zurück«, analysiert ein hoher Beamter im Tokyoter Finanzministerium das Wesen der Postreform. Er warnt, dass es lange dauern werde. Doch schon jetzt bereiten sich mit Blick auf die Postprivatisierung die großen internationalen Investmentbanken auf lukrative Börsengeschäfte und Fondsgesellschaften auf einträgliche Kooperationen bei der Vermarktung von Finanzprodukten vor.
Genau davor hatte der ehemals einflussreiche Bau- und Verkehrsminister Shizuka Kamei, bis zuletzt einer der vehementesten Gegner der Postprivatisierung, vor allem anderen gewarnt. »Japan wird im Namen der Globalisierung von ausländischen Kräften erobert. Die Postprivatisierung ist die letzte Phase dieses Prozesses. Mit ihr verschenken wir 3,4 Billionen Dollar an Amerika«, schimpfte Kamei. Seine Rufe verhallten ungehört.
Von Georg Blume, DIE ZEIT 13.10.2005 Nr.42
>>> http://zeus.zeit.de/text/2005/42/G-Japan__Post