Nelken für die Ermordeten

Demo mit Nelken auf dem Taxim-Platz. Vorne rechts eine "stillstehende Frau"
Demo mit Nelken auf dem Taxim-Platz. Vorne rechts eine „stillstehende Frau“

Nach der brutalen Räumung des besetzten Gezi-Parks in Istanbul am 15.6. fanden sich die Aktivist_innen dezentral in verschiedenen Parks in der Stadt zusammen. Es gab abendlich bis zu 18 Versammlungen mit mehreren 1000 Menschen.

Freitag 21.6.2013: Im Abasaga-Park im Stadtteil ‪Beşiktaş‬ besuchte ich eine der vielen Versammlungen. Es gab Diskussionsrunden und Workshops, Neugierige und Aktivist_innen. Es war voll. Im kleinen Amphitheater fand eine Versammlung statt. Der Protest begann mit dem Schutz von Bäumen im Gezi Park:

„The redevelopment plans include the construction of a shopping centre, which Prime Minister Recep Tayyip Erdogan insists will not be „a traditional mall“ but will include cultural centres, an opera house and a mosque. An Ottoman-era military barracks will be rebuilt near the site, and the historic Ataturk Cultural Centre will be demolished“ (BBC Europe 7.6.2013).


Längst ist klar, dass hier öffentliche Güter und sozialer Raum verteidigt werden. Ein Redebeitrag folgt dem nächsten: Berichte zur Situation der Proteste aus anderen Städten, etwa Ankara und Izmir; der Erfolg des Widerstandes gegen die Fahrpreiserhöhung in Brasilien; Arbeitsgruppengründungen auf einem Parallelforum; Vorschläge zur Strategie der nächsten Monate – Parteigründung oder in die bestehenden Parteien reingehen; mehr Verbündete gewinnen; den Sommerurlaub absagen. Zwischendurch immer wieder Ankündigungen der Aktionen am kommenden Tag. Eine soll auf dem Taksim-Platz stattfinden: Die Nelkendemonstration um 19 Uhr. Um Mitternacht ist die Versammlung zu Ende: Bitte den Müll einsammeln! Die mitgebrachten Zelte bitte nicht aufstellen. Nehmt Rücksicht auf die Nachbarn! „Wer jetzt sitzen bleibt, ist ein Linker“, verriet mir meine Begleitung.

Samstag 22.6.2013: Jedwede politische Versammlung oder Demonstration auf dem Taksim Platz ist verboten. Der Fahrstuhl beförderte uns um 19:10 von der unterirdischen Seilbahn mitten auf den Platz. Wir fanden uns in einem Meer von Menschen wieder: Her yer Taksim, her yer direnis! (Überall ist Taksim  – überall ist Widerstand) schallte es uns entgegen. Ein Zentrum der Kundgebung war nicht auszumachen, keine Redebeiträge, keine Bühne, keine Musik. Zu sehen waren Fahnen der Plattform „Taksim Solidarity“, eine Handvoll Regenbogen-, National- und Atatürkfahnen. Minutenlang warfen die Menschen ihre mitgebrachten Nelken zum Gedenken der Ermordeten in die Luft. Immer wieder mächtige Sprechchöre. Im Nachrichtenbulletin der Arbeiterpartei Türkei ist zu lesen, dass es nach Angaben der Krankenhäuser vier Tote, 60 Schwerverletzte und 7832 Leichtverletzte gab. Die türkische Ärztevereinigung geht von wesentlich höheren Zahlen aus. Mit Sonnenuntergang wurde der Platz unter Einsatz von Wasserwerfern und Rauchbomben geräumt. Die Aktivist_innen zogen sich in die Seitenstrassen zurück. Polizei- und SEK_Trupps setzten hier Pfefferspray, Markierungsgeschosse und Tränengas ein.

Sonntag 23.6.2013:

„Es ist der größte Erfolg und der größte Protest, dass die Leute alle zur Nelkendemonstration auf den Platz kamen. Und es ist der größte Fehler der Regierung, einen Platz zu räumen, auf dem sich Menschen zusammen finden, die Nelken werfen“ (Kollege aus Istanbul).

Am Abend versammelten sich wieder Menschen zum Stillstehen auf dem Taksim Platz: Am 17.6. hatte der erste „Stillstehende Mann“ vor dem Atatürk-Kulturzentrum gestanden. In dem achtstündigen Protest hatte er zahlreiche Nachahmer_innen gefunden. Auch in der Hauptstadt Ankara dauern die gewaltvollen Auseinandersetzungen an. Die Versammlungen in den Parks von Istanbul gehen weiter. Der Kampf um den sozialen und politischen Taksim-Platz ist erst der Anfang.

One Response to “Nelken für die Ermordeten”

  1. Franziska Frielinghaus,

    „Während die Mainstreammedien bemüht sind, die Proteste als Bürgerbewegung gegen den ein oder anderen Mißstand darzustellen, handelt es sich in der Tat um Klassenkämpfe, an denen sich auch andere Schichten der Gesellschaft beteiligen“ (Junge Welt 6./7.Juli 2013). Thomas Eipeldauer nimmt in „Die Experimentierplätze“ [http://www.jungewelt.de/2013/07-06/022.php?sstr=experimentierpl%E4tze] einen Analyse der Kämpfe bei Platzbesetzungen in Griechenland, New York City und der Türkei vor. Die Gemeinsamkeiten und Bedeutungen im Kampf um öffentliche Güter und die miserable soziale Lage werden anschaulich beschrieben und miteinander in Bezug gesetzt. Die Lektüre lohnt sich in Ergänzung zu der hier beschriebenen Momentaufnahme vom Taksim Platz in Istanbul.

Hinterlasse eine Antwort