Unter dem Titel „Chancengerechtigkeit“ präsentiert die Bertelsmann-Stiftung ihren neuesten Bildungsreport und kommt damit dick in die Medien:
Die Chancen von Schülern, soziale Nachteile zu überwinden und ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen, unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland deutlich. Das zeigt der Chancenspiegel, mit dem die Bertelsmann Stiftung und das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der Technischen Universität Dortmund die Schulsysteme aller Bundesländer auf Chancengerechtigkeit untersucht haben.
Bertelsmann verdient aus schlechter Erfahrung erstmal wenig Vertrauen für seine weichgespülte Kritik der Verhältnisse in der Schulbildung. Also: Was heißt hier eigentlich ChancenGERECHTIGKEIT? Warum nicht ChancenGLEICHHEIT? Wikipedia dazu:
Unter Chancengerechtigkeit ist in Abgrenzung zur Chancengleichheit zu verstehen, dass ein möglichst breit gefächertes Chancensystem unterschiedlichen Begabungen gerecht werden soll. Während der Fokus bei Chancengleichheit auf Gleichheit der Chancen für Bevölkerungsgruppen liegt, fokussiert der Begriff der Chancengerechtigkeit die Aufstiegschancen von Individuen entsprechend ihrer Begabung. Der Begriff der Chancengerechtigkeit wurde von den 1970er bis 1990er Jahren hauptsächlich von Bildungspolitikern der CDU benutzt, gehört nun aber seit einigen Jahren auch zum Vokabular von liberalen und sozialdemokratischen Bildungspolitikern.
Da versteh ich doch die Welt wieder: Bertelsmann will die Politik weiter in Richtung verschärfter Selektion der Talente auch aus den Unterschichten („Bildungsferne Schichten“) drängen. Dabei soll bitte nicht die ganze Schicht begünstigt, sondern nur die individuellen Talente herausgefunden und gefördert werden. Auch mal Einzelne aus der Unterschicht zu privilegieren, das ist dann chancengerecht. Klingt irgendwie sozial, garantiert dem Kapital, dass nicht ein schlauer Kopf oder eine geschickte Hand übersehen wird und wirkt klassenpolitisch, indem es der Unterklasse ihre potentiellen „organischen Intellektuellen“ frühzeitig, am besten schon in der Kita, abwirbt.
Das Lob der Chancengleichheit, welche im Wikipedia-Beitrag durchschimmert, finde ich ja nicht nachvollziehbar. Wo hebt sich das denn positiv vom Konzept Chancengerechtigkeit ab bzw. wo ist da der Unterschied? Das gegenwärtige Bildungssystem, so exemplarisch die Partei Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Grundsatzprogramm, sei „ungerecht, ineffektiv und weit entfernt davon, Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit zu verwirklichen“ (Bündnis 90/Die Grünen 2002: 103). Schlüsselelemente der Bildungspolitik dürften nicht „auf die bloße An- und Einpassung der heute Außenstehenden [zielen], sondern auf ihre wirkliche gesellschaftliche Teilhabe“ (Bündnis 90/Die Grünen 2007: 6). (Worin dieser Konzeption jetzt genau der Unterschied zwischen „An- und Einpassung“ und „wirklicher Teilhabe“ liegt, habe ich nicht verstanden. Ziel sei, so der sich anschließende Satz, durch die wirkliche Teilhabe „jeden Menschen zu befähigen, seinen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit bestreiten zu können“.)
Die Formel der Chancengleichheit ist wie die der Chancengerechtigkeit aus meiner Sicht das zur Drohung passende Versprechen im aktivierenden Sozialstaat – auf jedes Fordern folgt ein kleines Fördern, was in diesem Fall die Schaffung des fairen und freien Zugangs zum (Bildungs-)Marktgeschehen bedeutet. Alle dürfen rennen. Rot-grün, schwarz-gelb, der Aktionsrat Bildung um Dieter Lenzen und die Bertelsmann unterscheiden sich hier nicht wesentlich.
Dem Paradigma des „fairen Zugangs“ kommt aus meiner Sicht die Aufgabe zu, soziale Ungleichheit zu legitimieren. Auch bei einem fairen Zugang zum Wettbewerb um die besten Plätze muss es – alles andere widerspräche der Logik – GewinnerInnen und VerliererInnen geben.
Bündnis 90/Die Grünen. 2002. Die Zukunft ist grün. Grundsatzprogramm von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Berlin.
Bündnis 90/Die Grünen. 2007. Bericht der Kommission ‚Zukunft Sozialer Sicherung‘. http://www.gruene-partei.de/cms/default/dokbin/202/202371.bericht_kommission_zukunft_sozialer_sich.pdf.