Als Dokumentation und Reflexion der Proteste der Studierenden von 2009/2010 sind bei Diaphanes und im Verlag Westfälisches Dampfboot zwei wie ich finde lesenswerte Bücher erschienen. Der Band „Bildung MACHT Gesellschaft“ geht auf eine Ringvorlesung in Salzburg zurück, die von Studierenden infolge der Proteste organisiert wurde. Der Sammelband „Was passiert?“ des Autor_innen-Kollektives „Unbedingte Universitäten“ aus München enthält Stellungnahmen, Thesen, Forderungen, Flugblätter, geordnet nach den Kristallisationspunkten und Orten des Protests (von Wien über Bochum und Berlin nach Berkley und New York).
Zunächst also: Was passiert? Das Buch versammelt zunächst diverse Forderungen der Proteste: „Schluss mit den intransparenten Anmeldesystemen!“ (Wien) „Gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse in der Wissenschaft!“ (Frankfurt/Oder). „Vergesellschaftung der Hochschule von innen!“ (Kapfinger/Sablowski) Und Julian Nida-Rümelin fordert, dass „wir in Deutschland an der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Studienstandorte fest[halten]“.
Ausgangs- und ein weitgehend gemeinsamer Kritikpunkt der Statements sind die Verhältnisse in der ökonomisierten, unternehmerischen Universität. „Der derzeitige Bildungsbegriff ist am Begriff der wettbewerbsfähigen Wissensökonomie orientiert. Bildungsinstitutionen wird fast ausschließlich im Kontext marktwirtschaftlicher Verwertungslogiken Bedeutung beigemessen.“ (Lehrenden- und Forschendenversammlung der Wiener Universitäten). Da hören die Gemeinsamkeiten dann aber auch schon wieder auf, die gesellschaftstheoretischen Deutungen gehen mitunter ziemlich weit auseinander. (Was auch nicht verwundert, wenn Anachist_innen neben Ulrich Beck schreiben und Judith Butler neben Julian Nida-Rümelin– zwischen 2001 und 2002 als Kulturstaatsminister Mitglied der Bundesregierung.)
Ist die Gegenwartsgesellschaft also insgesamt geprägt von einer „Intensivierung von Verwertung und Ökonomisierung“ (Wiener Kollektiv)? Leben wir in einem autoritären Regime, in dem „die wichtigsten und grundsätzlichsten Entscheidungen […] nicht zur Wahl [stehen]“, wie Mark Lance meint? Oder erleben wir vor allem eine „Anti-Bildungs-Bildungsreform“? In den Worten von Ulrich Beck also „Fast Food entspricht Fast Education“? Aber gerade durch diesen Pluralismus ist das Buch erfrischend und inspirierend.
Im Mittelpunkt des Sammelbandes „Bildung MACHT Gesellschaft“ stehen weniger die Forderungen des Bildungsstreiks, sondern gesellschaftstheoretische Reflexionen über die Transformation des Bildungssystems. Konrad Paul Liessmann konstatiert etwa: „Vieles von dem, was unter dem Titel der Wissensgesellschaft propagiert und proklamiert wird, erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine rhetorische Geste, die weniger einer Idee von Bildung, als handfesten politischen und ökonomischen Interessen folgt.“ Die Bildungsreformen zielen auf den flexiblen Menschen, „der lebenslang lernbereit, seine kognitiven Fähigkeiten sich rasch wandelnden Märkten zur Disposition stellt“.
Roland Atzmüller knüpft an diesen Gedanken an. Er sieht in den gegenwärtigen Prozessen der Reorganisation vor allem „widersprüchliche und umkämpfte Suchprozesse nach neuen Formen der Regulation der Konstitution des Arbeitsvermögens in den gesellschaftlichen Bildungs- und Sozialisationsinstanzen“. Bildung wird auf das Humankapital reduziert. „Einzelne Qualifikationsbausteine werden als Güter konzipiert, die Produziert, am Markt angeboten, verkauft und verwertet werden können.“
Kontext der Reformen ist für ihn die Entwicklung vom Wohlfahrtsstaat zum „Workfare-State“. Voraussetzung für das Werden dieser Form von Staatlichkeit sind Arbeitskräfte, die „fähig und bereit sind, als UnternehmerIn ihrer eigenen Arbeitskraft die Dynamik der Akkumulationsprozesse zu sichern“. Atzmüller sieht hier wie ich finde sehr plausibel eine Art von Selbstkritik des Managements an starren fordistischen Regimes der Überwachung und Steuerung der Arbeitskraft.
Ein zentraler Apparate der „Beschlagnahme von Lebenszeit“ (Michel Foucault) ist im Fordismus die gewissermaßen auf die Gesellschaft verallgemeinerten Institution der Schule. Lern- wie auch Arbeitsverhältnisse werden – so die Idealvorstellung – aus der Position des analysierenden Beobachters geplant, gesteuert und überwacht. Im Rahmen der neoliberalen Offensive erscheint bspw. die fehlende Innovationskraft und die Passivität der so gesteuerten Subjekte als Hauptproblem. Eine fordistische Menschenführung hat demnach Mechanismen entwickelt, die eine „Kultur der Abhängigkeit“ befördert – so Anthony Giddens als Stichwortgeber der Neuen Mitte. Und diese Abhängigkeit habe eine psychologische Grundhaltung zur Konsequenz, die verhindert, sich in der Welt von heute zurechtzufinden.
Was innerhalb der gegenwärtigen Bildungsreform als deutlich wird, ist die Suche nach einen neuen „Arbeiter- und Menschentyp“ (Gramsci). Es geht in dieser Argumentation um die Generierung einer spezifischen Subjektform, wobei Roland Atzmüller diese Generierung im engen Zusammenhang mit der Transformation kapitalistischer Verhältnisse sieht. Die Beschäftigten sind heute also „begabter“, als sie es gestern noch sein durften. Die angenommenen Fähigkeiten der Bevölkerung folgen hier den Bedürfnissen der ökonomisch Herrschenden.
Die Debatte um das unternehmerische Selbst in der aktuellen Bildungsreform, die durch den Sammelband aufgegriffen wird, kann und soll hier nur ein Schlaglicht werfen. Das Buch ist mit seinen vielen Beiträgen insgesamt sehr gelungen.
Ihren Ausgangspunkt hatten beide Bücher in den Protesten und den Streiks der Studierenden, was die These von Gerald Raunig ganz plausibel erscheinen lässt, dass die Universitäten als Orte der Debatte und der Politisierung – als „neue Orte des Konflikts“ – enorm wichtig sind. Alleine dass die Streiks diese beiden Bücher hervorbrachten, ist wohl schon ein Beleg dafür.
Unbedingte Universitäten (Hrsg.). 2010. Was passiert? Stellungnahmen zur Lage der Universität. Zürich: Diaphanes. 412 Seiten. 17,50 Euro.
Sandoval, Marisol u.a. (Hrsg.). 2011. Bildung MACHT Gesellschaft. Münster: Westfälisches Dampfboot. 257 Seiten. 25,90 Euro.