Düsseldorf/Berlin – Die Einschläge kommen näher für Deutschlands Pkw-Fahrer: Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage diskutiert das politische Berlin jetzt die Einführung einer Pkw-Maut beziehungsweise eine Autobahn-Privatisierung. In der vergangenen Woche hatten die Landesverkehrsminister das Maut-Projekt noch abgelehnt. Am Wochenende nun erklärte der designierte Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD), er müsse die Autobahnprivatisierung „prüfen, ich bin noch nicht festgelegt“. Noch, so scheint es, will keiner raus mit der Wahrheit. Und doch werden sich die deutschen Autofahrer mittelfristig wohl von ihren rein steuerfinanzierten Schnellwegen verabschieden müssen – genau so, wie das viele westeuropäische Nachbarn längst getan haben.
Zum einen fehlt dem Staat das Geld für die Instandhaltung und den Ausbau des Autobahnnetzes. Zum anderen könnte der Verkauf des nach Expertenschätzungen 127 Mrd. Euro wertvollen Netzes die Staatsschulden und damit auch die Zinszahlungen erheblich drücken – um bis zu sechs Mrd. Euro jährlich, heißt es. Interessenten, die die Straßen kaufen, sanieren oder erweitern und per Maut refinanzieren wollen, gibt es reichlich, vor allem aus der Bauindustrie und der Finanzbranche. „Die Märkte im In- und Ausland warten nur darauf“, meint Friedrich Ludwig Hausmann, Partner der Anwaltskanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer, die sich seit Jahren mit Infrastruktur-Privatisierung beschäftigt.
Welcher klamme Finanzminister kann da lange widerstehen? Sozialdemokrat Peer Steinbrück jedenfalls ist aus seiner Zeit als Kassenwart in den Landeskabinetten in Kiel und Düsseldorf sowie später als NRW-Ministerpräsident als jemand bekannt, der keine Berührungsängste mit der Privatwirtschaft hat.
Neben den deutschen Groß- und Landesbanken kämen ausländische Finanzkonzerne wie Barclays, BNP Paribas oder Goldman Sachs in Frage, auch Infrastrukturspezialisten wie die Royal Bank of Scotland oder die Royal Bank of Canada oder die umtriebige australische Mcacquarie-Bank, die bereits an der privat finanzierten Warnow-Querung bei Rostock beteiligt ist. Auch internationale Fonds zeigen Interesse – schließlich verspricht das „Transitland“ Deutschland verläßliche Einnahmen. Bisher dürfen freilich offene Immobilienfonds nur in sehr beschränktem Ausmaß in die Finanzierung solcher Projekte einsteigen.
Die Bauindustrie wünscht sich seit langem einen Umschwung in der Infrastruktur-Politik: Hochtief, Bilfinger Berger oder Strabag – alle würden ihre Maut-Erfahrungen aus dem Ausland (Nordamerika, Australien, Asien) nur zu gern auf dem Heimmarkt einsetzen und wären wohl bereit, dafür tief in die Tasche zu greifen. „Die Einführung einer Maut müßte aber mit einer Absegnung der Kfz- und Mineralölsteuer einhergehen“, sagen Hochtief-Chef Hans-Peter Keitel und Herbert Bodner, Vorstandsvorsitzender von Bilfinger Berger, unisono. Die Baukonzerne versprechen sich Milliardengeschäfte mit jahrelang weitgehend gesichertem Cash Flow aus fließendem – selbst aus stehendem – Verkehr.
Zumindest in der Bauphase könnten auch Tausende kleinere und mittlere Zulieferunternehmen von den Aufträgen für die Großen profitieren: Patrick Adenauer jedenfalls, Präsident der Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmen (ASU), jubiliert: „Eine Privatisierung der Autobahnen würde einen gewaltige Investitions-, Wachstums- und Beschäftigungsschub auslösen“.
Seit wenigen Jahren sind in Deutschland solche Projekte im Hochbau möglich, etwa für die Sanierung und den baulichen Betrieb von Schulen oder Gefängnissen: Der Bereich zählt zu den Wachstumssparten der Bauindustrie. Würde das Modell auf Autobahnen übertragen, stünden auch ausländische Bewerber am Start, etwa die französischen Baukonzerne Vinci und Eiffage. Vinci hält bereits 23 Prozent am Autobahnbetreiber Autoroutes du Sud (ASF) und ist unter anderem mit „Teerbau“ im deutschen Straßenbau vertreten. Sowohl Vinci und Eiffage haben jetzt für die drei Autobahnen in Frankreich geboten, die komplett privatisiert werden sollen. Auch Cofiroute könnte Interesse haben: Die Gesellschaft ist Mitglied im Konsortium von Toll Collect, das die deutsche LKW-Maut eintreibt.
Aus Italien könnten die Benettons mit ihrer expansionsfreudigen Autobahngesellschaft Autostrade ins Geschäft drängen. „Ein Unternehmen wie Autostrade ist immer aufmerksam, wenn sich etwas im Ausland tut“, so CEO Vito Gamberale. Der mit 3408 Streckenkilometern größte europäische Autobahnbetreiber „Autostrade per l’Italia Spa“ bietet mit einem italienisch-französischen Konsortium bereits für die Autobahn Paris-Rhones.
Beim Bieter-Wettstreit in Frankreich sind auch Spanier vertreten. Die Baugruppe Sacyr Vallehermoso wird unter anderem die Brücke über die Meeresenge von Messina bauen. „Wir suchen überall Chancen“, so ein Sprecher von Albertis, das in Spanien 1500 Kilometer Mautstrecken betreibt. Dazu käme die zum Baukonzern Ferrovial gehörende Cintra, die 16 Autobahnen weltweit betreibt.
Wie der Umstieg vom staatlichen auf ein privates Autobahnnetz konkret ablaufen könnte, ist noch unklar. Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie arbeitet seit Monaten an einem konkreten Vorschlag. Anfang November soll das Papier fertig sein. In den Konzernen ist zu hören, daß die Vergabe einzelner Strecken wirtschaftlich wenig Sinn macht. Um das Risiko besser zu streuen und eine Mischkalkulation von teuren und billigeren Strecken zu ermöglichen, favorisieren viele in der Branche die Vergabe größerer Netze an einen Betreiber oder ein Betreiberkonsortium. Möglicherweise einschließlich der Bundesstraßen – um mögliche Ausweichrouten dicht machen zu können.
Wahrscheinlich würde der Systemwechsel schrittweise erfolgen, von einzelnen Strecken hin zu Netzen. Dabei dürften als erstes an den am stärksten befahrenen Strecken Maut-Häuschen oder -Brücken aufgestellt werden: auf Teilen der A1 in NRW, an der A3 rund um Frankfurt und die A8 bei München. Der gefürchtete Alb-Aufstieg der A8 wird bereits als sogenanntes privatisiertes „F-Modell“ geplant, als Maut-Insellösung. Bisher gibt es zwei derartige Projekte in Deutschland: die Warnow-Querung und den Herrentunnel in Lübeck.
„Die Autobahn-Privatisierung muß gar nicht zwangsläufig die Einführung einer Pkw-Maut zur Folge haben“, meint Jurist Hausmann. Nach britischem Vorbild wäre eine „Schattenmaut“ vorstellbar: Der private Investor, der ein Stück Autobahn gekauft oder für 25 Jahre gepachtet hat, bekommt vom Staat für jedes registrierte Auto eine Gebühr, die wie bisher aus Steuern finanziert wird. Der Autofahrer bräuchte weder Kleingeld noch Maut-Vignette. Hausmann:“Die gesetzlichen Voraussetzungen für ein solches System, bei dem der Staat die Straßen behält, die dann ein Privater betreibt, sind verhältnismäßig leicht zu schaffen.“
Hagen Seidel in: Die Welt, 18.10.2005
Mitarbeit: Ute Müller, Karsten Seibel, Barbara Wörmann, Gesche Wüpper