Auf den Hügeln am Rande der traditionsreichen Universitätsstadt Marburg ist man stolz. Weit verzweigt liegt dort das Universitätsklinikum mit seinen Bauten, viele davon neu: die Medizinische Bibliothek, das Biomedizinische Forschungsgebäude und das Mutter-Kind-Zentrum. Es hat mehrere hundert Millionen Euro gekostet, all das fertig zu stellen, die Einrichtungen machen Fakultät und Uniklinik zu einem der modernsten medizinischen Zentren Deutschlands. Doch die Zukunft der Klinik ist indes ungewiss; bei Ärzten und Pflegepersonal geht die Angst um.
Ende 2004 beschloss der hessische Landtag mit der Mehrheit der alleinregierenden CDU, das Klinikum mit der Uniklinik Gießen zu fusionieren und beide zum 1. Januar 2006 zu veräußern. Es wäre die erste Vollprivatisierung einer deutschen Uniklinik und ein revolutionärer Schritt im deutschen Gesundheitswesen. Ein Schritt aber, der viele Arbeitsplätze und die erfolgreiche Grundlagenforschung an beiden Kliniken gefährdet.
Seit Jahren ist die Privatisierung von Kliniken der öffentlichen Hand ein boomendes Geschäft. Vielen Ländern und Kommunen fehlt das Geld für Investitionen in Gebäude oder neue Technologien. Der Verkauf von Kliniken erscheint ihnen als Ausweg, die kostenintensiven Krankenhäuser und die Verantwortung loszuwerden. Der Anteil privater Kliniken stieg in den vergangenen zehn Jahren von etwa 15 auf 25 Prozent. Prognosen zufolge könnte er 2015 bei 40 bis 50 Prozent liegen.
Halten Privatanbieter bislang vor allem kleine Kliniken, so streben sie in jüngster Zeit immer stärker nach der Übernahme großer Häuser – bis hin zu so genannten Maximalversorgern, die das ganze medizinische Spektrum abdecken. Bestes Beispiel dafür ist die Anfang 2005 beschlossene Übernahme des Landesbetriebs Krankenhäuser (LBK) in Hamburg durch die Asklepios-Kette. Zum Zeitpunkt des Kaufs kam der LBK, eines der größten medizinischen Zentren Europas, mit rund 12000 Mitarbeitern auf einen Jahresumsatz von 800 Millionen Euro. Nun rücken auch Universitätskliniken, die zu den größten in der deutschen Krankenhauslandschaft gehören, ins Visier privater Ketten.
»Für uns wäre es sehr lukrativ, ein Universitätsklinikum zu erwerben«, sagt Bernhard Broermann, Gründer und Alleingesellschafter von Asklepios. »Neben der Nähe zu Lehre und Forschung ließen sich damit bestehende Lücken in unserem Krankenhausnetz schließen.« Auch andere Klinikketten sind interessiert. So beteiligten sich an der Ausschreibung für Gießen-Marburg alle maßgeblichen Anbieter: die Rhön-Klinikum AG, die Helios Kliniken und die Sana Kliniken (siehe Kasten).
Hessens Ministerpräsident Roland Koch ist sich mit Blick auf seine Pläne »sicher, dass wir damit mehr Wachstum für den Medizinstandort Hessen hervorrufen als mit jeder anderen Lösung«. Für ihn handelt es sich beim Fall Gießen-Marburg um ein »Leuchtturmprojekt«. Die Umsetzung der Pläne geriete zum Präzedenzfall. Auch andere Bundesländer prüfen den Verkauf ihrer Universitätskliniken. Bisher hat man sich dort aber stets für die abgefederte Variante einer Privatisierung in öffentlicher Hand entschieden: Dabei wird die betreffende Einrichtung rechtlich in ein privatwirtschaftliches Unternehmen umgewandelt, was ihr erlaubt, sehr viel eigenständiger zu wirtschaften und zum Beispiel auch Kredite aufzunehmen – Eigentümer aber bleibt der Staat.
Die Kliniken finanzieren ihren eigenen Verkauf – und der Staat bürgt
Unikliniken zu unterhalten ist teuer. Sie sind groß und meist besser ausgestattet als andere Krankenhäuser. Vor allem aber sind sie Stätten von Forschung und Lehre – das kostet. Zwar werden die laufenden Ausgaben von den Krankenkassen getragen. Seit Einführung der Fallpauschalen aber, mit denen feste Sätze pro Krankheitsbild statt wie früher pro Liegetag gezahlt werden, fließt immer weniger Geld in die Kassen. Unikliniken trifft dies besonders hart, denn die Ausbildung von Ärzten am Patienten erfordert Zeit – und die will niemand mehr bezahlen. Ganz zu schweigen von den nötigen Investitionen in immer neue Geräte und in Gebäude.
Rund 80 Prozent der bundesweit 35 Unikliniken machten 2004 Verlust. »Diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen«, prognostiziert der Vorsitzende des Wissenschaftsrats Karl Einhäupl. Das Klinikum Marburg, das stets schwarze Zahlen erwirtschaftet hat, zählt zu den großen Ausnahmen. Gießen hingegen weist jährlich einen Verlust von mindestens fünf Millionen Euro aus und hat in den vergangenen Jahren einen Investitionsstau von mindestens 200 Millionen Euro angehäuft. Einen Stau, den das Land Hessen nicht auflösen kann. »Die Kassen sind leer«, erklärt der zuständige Staatssekretär im Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Joachim-Felix Leonhard. »Uns fehlt schlicht das Geld, diese Lücken zu schließen.« Von einem Käufer aus der Wirtschaft verspricht sich die Regierung Koch ein strafferes Management und positive Impulse auch für Forschung und Lehre. »Ein privater Betreiber kann schnell Investitionen vornehmen, für die uns aufgrund der Haushaltslage die Hände gebunden sind«, sagt Leonhard.
Der geplante Verkauf könnte jedoch zum Bumerang werden: Mit 347 Millionen Euro hat der Bund die Kliniken Gießen und Marburg im Rahmen des Hochschulbauförderungsgesetzes (HBFG) bisher gefördert, und ein guter Teil davon müsste nach einem Verkauf wohl zurückgezahlt werden – laut HBFG darf der Bund private Betreiber nicht unterstützen. »Ein nicht näher zu bestimmendes Kostenrisiko«, urteilt Ulrich Kasparick, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesforschungsministerium. Hessen dürfte daran interessiert sein, zumindest die Rückforderungen des Bundes durch den Verkaufserlös zu decken.
Dies führt zum nächsten Problem: Je höher der Kaufpreis, desto größer dürfte die finanzielle Belastung für die Unikliniken sein. Erfahrungsgemäß lassen die gewinnorientierten Ketten das Krankenhaus selbst Kredite zur Finanzierung des Kaufpreises aufnehmen, um das eigene Risiko zu minimieren. So habe Asklepios beim Kauf von 74,9 Prozent der Anteile des LBK Hamburg von den rund 320 Millionen Euro Kaufpreis nur 19,2 Millionen Euro direkt bezahlt, sagt Ulrich Kestermann, Finanzexperte und im Verkaufsprozess Berater der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat des LBK. Ein großer Teil der Restsumme finanziere sich über Kredite, die die neu gegründete Krankenhaus GmbH belasteten und für die auch die Stadt Hamburg als Verkäufer bürge.
Asklepios-Chef Broermann sieht in einer solchen Finanzierungsstruktur keine Belastung. »Fremdfinanzierungen von zwei Drittel des Kaufpreises sind absolut die Regel«, sagt er und verweist darauf, dass sein Unternehmen neben den 19 Millionen Euro in bar auch zwei Kliniken eingebracht habe und somit insgesamt Eigenmittel von etwa 100 Millionen Euro einsetze. Diese Kliniken jedoch sind in den LBK eingegangen, Kaufpreis und -objekt verschmelzen auf seltsame Art. Unter dem Strich hat sich der LBK selbst gekauft. In die Selbstständigkeit startet er mit etwa 250 Millionen Euro Schulden.
Zur Wahl stehen sechs Prozent weniger Lohn oder der Abbau von 600 Stellen
»Ähnliches könnte dem Uniklinikum Gießen-Marburg blühen«, sagt Kestermann. Die angestrebte Privatisierung »ist ein hochgefährliches Experiment mit ungewissem Ausgang«, sagt auch Ulrich Montgomery, Vorsitzender der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. Bei dem Verkauf an eine private Klinikkette sähe sich das fusionierte Klinikum gleich drei Belastungen ausgesetzt: der Tilgung des Kredits über den zu erwartenden Kaufpreis in wahrscheinlich dreistelliger Millionenhöhe, den unmittelbar notwendigen Investitionen von gemeinsam etwa 300 Millionen Euro und dem Druck, jährlich mindestens acht bis zehn Prozent Gewinn abzuwerfen.
»In Gießen-Marburg wird zu viel auf einmal versucht«, sagt Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin. Er und andere Experten hegen große Zweifel, dass die Kliniken diesen Belastungen unter den Bedingungen des Fallpauschalen-Systems ohne empfindliche Einschnitte standhalten können. Zumal die Möglichkeiten der Erlössteigerung wegen des eher kleinen Einzugsgebiets beschränkt sind. Ein Problem, das selbst Interessent Broermann von Asklepios sieht: »Das Risiko in Marburg und Gießen ist sehr groß, da 85 bis 90 Prozent der Patientenströme aus der Region kommen.« Bei der Konkurrenz der Rhön-Klinikum AG will man sich derweil zu Verkauf und Risiken generell nicht äußern – schließlich sei dies ein laufender Prozess, heißt es.
Oft geht der Wechsel eines Krankenhauses zu einem privaten Betreiber mit sichtbaren Verbesserungen einher. Wo vorher Gebäude verkamen, ist plötzlich Geld da für Renovierungen, schmucke Neubauten und eine moderne Ausstattung. Für Projekte, die die öffentliche Hand nicht mehr finanzieren konnte oder wollte, stehen auf einmal Banken mit großzügigen Krediten parat. Das Ganze hat jedoch seinen Preis, lässt es sich doch nicht ohne harte Einsparungen an anderen Stellen bewerkstelligen. Bei der Rhön-Klinikum AG heißt es, es sei nicht möglich, den »Bären (zu) waschen, ohne ihn nass zu machen«. Hinter den Kulissen wird oft gespart, was das Zeug hält. Zuerst werden meist patientenferne Dienstleistungen wie Küche und Wäscherei ausgegliedert oder eigene Trägerschaften gegründet, um aus Tarifverträgen aussteigen zu können. Doch dabei bleibt es nicht.
»Kündigungen sind an der Tagesordnung, und für examinierte Pflegekräfte werden häufig nur Hilfskräfte eingestellt, die den vielfältigen Anforderungen an die fachgerechte Versorgung von Patienten nicht gewachsen sind«, sagt Norbert Donner-Banzhoff, Professor an der Universität Marburg. Beim LBK etwa wurde bereits kurz nach der Übernahme für 2005 ein Abbau von mehreren hundert Vollzeitstellen beschlossen. Für die nächsten Jahre können die Mitarbeiter zwischen einer sechsprozentigen Lohnkürzung und damit einer Aushebelung der Tarifverträge oder der Streichung von etwa 600 Stellen wählen. Andere gängige Maßnahmen betreffen die Verlängerung von Arbeitszeiten sowie Lohnkürzungen, wodurch der Druck auf Ärzte und Pflegepersonal steigt. »Über kurz oder lang wirken sich diese Einsparungen auch auf die Behandlungsqualität und damit die Gesundheit der Patienten aus«, sagt Donner-Banzhoff. Ein Vorwurf, den private Betreiber weit von sich weisen.
Im Fall Gießen-Marburg ist zu erwarten, dass viele der insgesamt gut 11000 Stellen abgebaut werden. Die Personalratsvorsitzenden der Kliniken in Gießen und Marburg gehen von Stellenstreichungen von mindestens 10 bis 20 Prozent aus, eine Größenordnung, wie sie Gewerkschaftsvertretern zufolge bei einer Privatisierung üblich ist. Damit könnten rund 2000 Menschen ihre Arbeit verlieren, ganz zu schweigen von den gefährdeten Jobs bei den mittelständischen Zulieferern. Angesprochen auf mögliche Stellenverluste, verweist die Landesregierung lediglich darauf, dass der Verkaufsvertrag eine Garantie enthalten werde, wonach betriebsbedingte Kündigungen bis Ende 2010 ausgeschlossen sein werden. Den vielen Beschäftigten mit befristeten Verträgen wird das indes nur wenig nutzen.
»Hier herrscht Grabesstimmung. Die besten Leute laufen davon«
»Und was passiert«, fragt Marburgs Personalratsvorsitzender Wilfried Buckler, »wenn sich der Private an dem großen Brocken verschluckt? Sollen die Unikliniken dann geschlossen werden? Marburg lebt von dieser Klinik. Sie ist nicht nur das einzige maßgebliche Krankenhaus, sondern auch der größte Arbeitgeber der Region.« Doch für diesen Fall ist gesorgt. »Der Vertrag wird eine Rückfallklausel beinhalten«, sagt Staatssekretär Leonhard. »Im Fall einer Insolvenz des privaten Betreibers geht die fusionierte Klinik wieder an das Land Hessen.« Mitsamt der bis dahin angefallenen Schulden, versteht sich.
Am gravierendsten dürften sich die finanziellen Belastungen auf die Einheit von Forschung, Lehre und Patientenversorgung auswirken. Ihrem Wesen nach sind Unikliniken die Werkstätten der Medizinstudenten, die dort von den besten Spezialisten und direkt am Patienten lernen. Die Verzahnung von Forschung, Lehre und Behandlung nützt allen Beteiligten und vor allem den Patienten. So hat man etwa in Gießen und Marburg durch Grundlagenforschung in der Tumormedizin Erfolge erzielt, die auch international Beachtung fanden. Einzelne Tumorarten, die noch vor 20 Jahren zu 90 Prozent zum Tode führten, sind heute auch dank dieser Forschung zu 90 Prozent heilbar.
Ob es solche Erfolge an den Fakultäten unter privaten Eigentümern noch geben wird, scheint fraglich. »Private Klinikbetreiber werden naturgemäß wenig Interesse am Vorhalten einer adäquaten Forschungs- und Lehrtätigkeit haben«, befürchtet Ärztevertreter Montgomery. Äußerungen von Chefs mehrerer Privatketten bestätigen diese Einschätzung. Lutz Helmig, Hauptgesellschafter von Helios, hat nach eigener Aussage »kein Interesse an Grundlagenforschung«; der langjährige Vorstandsvorsitzende und heutige Aufsichtsratschef der Rhön-Klinikum AG, Eugen Münch, ist der Ansicht, der Direktor einer Klinik solle nicht dafür sorgen, dass geforscht und gelehrt, sondern dass produziert werde. Ob es da Gießen-Marburg viel nützt, dass das Land Hessen eine ständige Schlichtungskommission zwischen Klinik und Fakultät einrichten und über den Verkauf hinaus eine fünfprozentige Beteiligung an den Kliniken halten will – »um notfalls rechtlich eingreifen zu können«, wie Staatssekretär Leonhard erklärt –, darf bezweifelt werden.
»Ein solcher Verzicht auf Grundlagenforschung könnte der Anfang vom Ende für die deutschen Universitätskliniken sein«, befürchtet der Dekan der Medizinischen Fakultät in Marburg, Bernhard Maisch. Auch andere Unikliniken befinden sich in einer wirtschaftlichen Zwangslage, auch ihnen droht die Vollprivatisierung. In Lübeck und Kiel wird bereits ganz offen über einen Verkauf der Unikliniken spekuliert. »Auch dort würden wir uns sofort bewerben«, sagt Asklepios-Chef Broermann. Aufmerksam verfolgt die Fachwelt die Entwicklung in Hessen.
Die Vorboten des Verkaufs sind in Gießen und Marburg schon zu spüren. Seitdem das Gespenst »Privatisierung« umgeht, bewerben sich kaum noch Spitzenmediziner, andere werfen das Handtuch. »Hier herrscht Grabesstimmung. Die besten Leute laufen mir davon«, berichtet ein Chefarzt in Marburg. Vor einem Jahr hatte auch er einen Ruf an eine andere Universität. »Wenn ich gewusst hätte, was uns blüht, ich wäre damals ganz sicher gegangen.«
Von Jan Schmitt, DIE ZEIT 13.10.2005 Nr.42
>>> http://zeus.zeit.de/text/2005/42/Unikliniken