Verein zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung (Alfred Klahr Gesellschaft) ueber Aktualitaet Oeffentlichen Eigentums

Am 26. Juli 1946 beschloss der Nationalrat mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ und KPÖ das 1. Verstaatlichungsgesetz, mit dem die Schlüsselindustrien und österreichischen Großbanken verstaatlicht wurden. 1947 wurde die gesamte Elektrizitätswirtschaft in staatlichen Besitz überführt. Heute, über 60 Jahre danach, sind von den Verstaatlichungen nur noch marginale Reste in Form von ÖIAG-Beteiligungen an börsennotierten Unternehmen wie AUA, OMV, Post AG und Telekom Austria übrig geblieben.
Die Alfred Klahr Gesellschaft nahm im Juni 2006 gemeinsam mit dem KPÖ-Bildungsverein Steiermark den 60. Jahrestag des 1. Verstaatlichungsgesetzes zum Anlass, vor dem Hintergrund der seit 1987 währenden Reprivatisierungswelle die Aktualität von öffentlichem Eigentum in staatlicher und kommunaler Hand zu diskutieren. Der vorliegende Band vereint Statements und Referate dieser Konferenz mit weiteren Beiträgen und Dokumenten zum Thema.
Mehr: http://www.klahrgesellschaft.at/Buecher/Verstaatlichung.html

Venezuela einigt sich mit US-Firma – Stromversorger verstaalicht

Die venezolanische Regierung übernimmt nach offiziellen Angaben für  
740 Millionen Dollar den 82-Prozent-Anteil an Electricidad de Caracas  
vom US-Konzern AES Corp.. Das Geschäft soll bis zum 30. April  
abgewickelt werden. Bei der feierlichen Unterzeichnung des Vertrages  
sagte AES-Chef Paul Hanrahan, die Übernahme sei vollkommen fair und  
im Rahmen der nationalen Gesetze abgelaufen.

Chavez hatte nach seiner klaren Wiederwahl im Dezember angekündigt,  
neben Elektrizitätswerken auch den größten Telekommunikationskonzern  
des südamerikanischen Landes sowie ausländische Schwerölprojekten im  
Orinoco-Delta zu verstaatlichen. Damit will der Linkspopulist sein  
Sozialismus-Modell in Venezuela vorantreiben. Ziel soll es sein, die  
Einnahmen etwa aus dem Ölgeschäft gleichmäßiger zu verteilen.

Obwohl Venezuela einer der größten Erdölexporteure der Welt ist,  
lebten 2005 nach Angaben der Vereinten Nationen 37 Prozent der  
Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Chavez‘ Gegner werfen ihm  
dagegen vor, nur ausländisches Kapital zu vertreiben und das Land  
noch abhängiger vom Öl zu machen. Von den jüngsten  
Verstaatlichungsplänen in der Ölbranche sind unter anderem die US-
Multis Chevron, Exxon Mobil und ConocoPhillips betroffen.

http://de.today.reuters.com/news/newsArticle.aspx?

Estland kauft Bahn zurueck – Deprivatisierung ohne Folgen?

Die WOZ schreibt: 
Bevor der Verkehr ganz zusammenbricht, kauft der Staat die Bahn zurück. Aber hat er was daraus gelernt?
Auf der Hauptstädteverbindung zwischen dem estnischen Tallinn und dem lettischen Riga fahren keine Personenzüge mehr. Auf dem Trassee ist oft nur noch eine Geschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern möglich. Auch zwischen anderen Städten reist man mit dem Bus schneller, billiger und mit besseren Verbindungen. Estlands Bahn ist heruntergewirt- schaftet, und der Grund dafür ist die Privatisierung. Schon vor Jahren hatte die Tageszeitung «Postimees» geschrieben: «Wenn das Geld den Zugverkehr bestimmt, landet er auf dem Abstellgleis.»
Estlands Privatisierungskommission hatte in den neunziger Jahren stolz verkündet, die Zerschlagung der Eisenbahn sei Teil des «radikalsten jemals gemachten Versuchs, ein staatliches Monopol zu brechen». Die baltische Sektion der Staatsbahn der ehemaligen Sowjetunion war in Häppchen aufgeteilt und an Privatfirmen aus den USA, Britannien und Estland verkauft worden. Der Güterzugverkehr und grosse Teile der Netzinfrastruktur fielen an die Gesellschaft Eesti Raudtee. Dass neben dem Zugbetrieb auch das Schienennetz aus der nationalen Verantwortung an Privatinteressen übertragen wurde, war von Anfang an kritisiert worden: Zumindest das Netz müsse unter staatlicher Kontrolle bleiben. Die BefürworterInnen der Privatisierung entgegneten, dass der Staat ja weiterhin ein Drittel der Anteile von Eesti Raudtee und damit Einfluss behalten werde.
Tatsächlich hatte aber die private Zweidritteleigentümerin Baltic Rail Services (BRS) das alleinige Sagen, eine Gesellschaft von hauptsächlich US-amerikanischen InvestorInnen. Und sie lieferte praktisch vom ersten Tag an negative Schlagzeilen. Mit Meldungen über Sicherheitsprobleme, weil das Schienennetz mit ausrangierten schweren Dieselloks aus den USA ruiniert wurde und weil die meisten der mit BRS vereinbarten Investitionen nicht getätigt wurden.
Als die Regierung in Tallinn sich das nicht länger bieten lassen wollte und mit empfindlichen Konventionalstrafen drohte, bot die BRS den Verkauf ihrer Anteile an. Erste Verhandlungen über eine Wiederverstaatlichung scheiterten im Februar an unvereinbaren Preisvorstellungen. Die BRS versuchte daraufhin den Verkauf an russische und deutsche InteressentInnen, doch ohne Erfolg. Die Gesellschaft hatte im August einen Plan für die kommenden Jahre mit einem beinahe vollständigen Investitionsstopp vorgelegt, aufgrund dessen der baldige Zusammenbruch des Bahnverkehrs vorherzusehen war. Daraufhin zog die Regierung in Tallinn die Notbremse: «Wir können nicht mehr länger herumsitzen und zusehen», sagte Wirtschaftsminister Edgar Savisaar. Vom Parlament wurde ein Nachtragshaushalt beschlossen, in dem nun über 280 Millionen Franken für eine Wiederverstaatlichung noch in diesem Jahr reserviert sind. Das ist zweieinhalb Mal so viel Geld, wie die BRS vor fünf Jahren bezahlt hatte. Für die InvestorInnen bei BRS ein glänzendes Geschäft, denn sie haben nach Einschätzung von InsiderInnen Eesti Raudtee nicht nur ausgeplündert, sondern auch als Sicherheit für günstige Bankkredite benutzt. Übrig geblieben sei eine wertlose Gesellschaft, die all ihrer Aktivposten beraubt worden sei.
Aus dem teuren Abenteuer hat man in Tallinn offenbar zumindest eines gelernt. Die Gleis- und Signalanlagen sollen auch im Falle einer neuen Privatisierung Staatseigentum bleiben. Für den Verkehrsbetrieb sucht die Regierung hingegen neue private AkteurInnen. Estnische Medien nennen neben russischen und estnischen InvestorInnen auch die Deutsche Bahn mit ihrer Güterzugfirma Railion als Kaufinteressentin. Railion ist bereits in mehreren westeuropäischen Ländern aktiv (darunter in der Schweiz) und könnte durchaus ein Interesse an einer Expansion nach Osteuropa haben. Eesti Raudtee ist vor allem wegen des russischen Transitverkehrs zu Estlands Ostseehäfen interessant. Zudem gibt es Pläne für eine Güterzugverbindung von der Ostsee zum Pazifischen Ozean und für einen Containerverkehr von Nordeuropa nach China. Die Bahnen und Häfen des Baltikums könnten dabei eine zentrale Rolle spielen.

Pressespiegel: Trubel in der Linken um Privatisierungspolitik

Tagesspiegel, 04.07.2006
Für PDS-Realos ist Lafontaine ein Problem. Staatsverständnis ist einer der Streitpunkte
Von Matthias Meisner
Berlin – In der PDS wächst die Sorge, dass Oskar Lafontaine in einer vereinigten Linken zu mächtig werde könnte. Mehrere prominente Landes- und Bundespolitiker verständigten sich unter der Überschrift „Abschied und Wiederkehr“ auf einen „Aufruf aus der PDS zur neuen Linkspartei“. Das Papier verzichtet zwar auf eine direkte Abrechnung mit dem Vorsitzenden der Bundestagsfraktion. In einer ganzen Reihe von Punkten gehen die Unterzeichner aber auf Abstand zu Positionen Lafontaines, die dieser vor wenigen Wochen im Gründungsmanifest für eine vereinigte Linkspartei durchgesetzt hatte. Unter dem Einfluss Lafontaines könnte die neue Linkspartei programmatisch zurückfallen, heißt es aus dem Kreis der Autoren. Streitpunkte sind unter anderem das Staatsverständnis der neuen Linken, aber auch die Haltung zu Regierungsbeteiligungen. Unterzeichner des Papiers sind unter anderem die Landesvorsitzenden aus Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, Klaus Lederer, Thomas Nord und Matthias Höhn, daneben dem Reformflügel zuzurechnende Bundespolitiker wie Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch, Vizeparteichefin Katina Schubert und der Berliner Fraktionsvorsitzende Stefan Liebich. Für die Klausurtagung der 53 Bundestagsabgeordneten, die am Montag in Rostock-Warnemünde begann, liefert das Papier Zündstoff. Lafontaine streitet für eine Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, kämpft kategorisch gegen den Abbau des öffentlichen Dienstes. Die Autoren des PDS-Papiers, das dem Tagesspiegel vorliegt, werben dagegen für mehr Differenzierung, stellen die Bedeutung des Kompromisses in der politischen Auseinandersetzung heraus: Es reiche heute „nicht aus, nur auf den Staat, seine Gesetze und sein Geld zu schauen“. Das Versagen der Reformpolitik erkläre sich auch „aus dem fehlenden innovativen Unterbau in der Gesellschaft, aus der alleinigen Verantwortungszuweisung an den Staat“. Der Aufruf erinnert auch an die Erfahrungen der PDS in Parlamenten und Landesregierungen, ein „großer Vorteil“, den man hart erarbeitet habe.
Schon in der jüngsten Vergangenheit hatte es mehrere kritische Wortmeldungen gegeben. Sachsen-Anhalts PDS-Chef Höhn sowie der dortige Fraktionsvorsitzende Wulf Gallert – Mitunterzeichner auch des neuen Papiers – hatten in Lafontaines Gründungsmanifest „keine tragfähige Basis“ für eine Vereinigung erkannt. Die Gefahr des inhaltlichen Scheiterns sei „sehr real“, sagte Gallert dem „Neuen Deutschland“. Thomas Falkner, früherer Leiter der Strategieabteilung in der Parteizentrale, warnte, die Preisgabe der „alten PDS“ und die „Überforderung der WASG“ würden die „große historische Chance“ der neuen Linken zerstören. Zusammen mit der brandenburgischen Fraktionschefin Kerstin Kaiser kritisierte Falkner, die Linkspartei sei derzeit „faktisch nicht beziehungsweise nur unter großen internen Störungen“ regierungsfähig.

Junge Welt 08.07.2006, Titel, Seite 1
Privat zum Sozialismus
Rainer Balcerowiak
Geht es nach dem Willen von Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch, dann wird sich die Linkspartei.PDS an einer von der WASG und anderen Gruppen geplanten bundesweiten Antiprivatisierungskampagne im Herbst nicht beteiligen. In einer jW vorliegenden Beschlußvorlage, die am Montag im Parteivorstand abgestimmt werden soll, heißt es klipp und klar: »Die Forderung ›keine Privatisierung‹ resp. ›Den Privatisierungswahn stoppen‹ ist in dieser Form nicht für eine politische Kampagne geeignet, weil zu unbestimmt und abstrakt.« Zudem kollidiere die geplante Kampagne mit den für diesen Zeitraum geplanten bundesweiten Aktionen für einen gesetzlichen Mindeslohn, die bis November durchgeführt werden sollen. Doch in dem Antrag von Bartsch wird deutlich, daß es keinesfalls um terminliche Mißhelligkeiten geht. In den zur Begründung formulierten »Thesen zum weiteren Umgang mit diesem Politikfeld« wird die bisher von der Bundespartei und auch der Bundestagsfraktion formulierte strikte Ablehnung von Privatisierungen im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge in Frage gestellt: »Privatisierungsbestrebungen von Bund, Ländern und Kommunen haben (…) auch einen Ansatzpunkt im realen Zustand der öffentlichen Haushalte, der öffentlichen Einrichtungen und öffentlichen Unternehmen.« Statt einer undifferenzierten Antiprivatisierungshaltung müsse die Partei »Positiv- und Negativkriterien« für den Verkauf öffentlichen Eigentums entwickeln.
Dem Autor dürfte die Brisanz seines Vorstoßes klar sein. In der Partei und auch aus den Reihen der WASG gab es in den letzten Wochen und Monaten massive Kritik am Verhalten von Kommunal- und Landespolitikern der Linkspartei.PDS besonders in Dresden und Berlin. In der sächsischen Landeshauptstadt stimmte eine Mehrheit ihrer Fraktion dem Komplettverkauf der städtischen Wohnungen zu. In Berlin haben mitregierende Sozialisten unter anderem einer Gesetzesnovelle zur Renditegarantie für die privatisierten Wasserbetriebe zugestimmt, in der die Kalkulationsgrundlagen für vereinbarte Preiserhöhungen zum »Geschäftsgeheimnis« erklärt und somit der Kontrolle der Abgeordneten entzogen werden. Auch das Gesetz zur Sparkassenprivatisierung kommt aus dem Haus eines Linkspartei.PDS-Senators. Diese neoliberale politische Praxis hatte unter anderem Oskar Lafontaine intern und öffentlich scharf kritisiert, und auch die gemeinsame Linksfraktion im Bundestag hat sich in Erklärungen – zuletzt auf einer Fraktionsklausur in dieser Woche – mehrheitlich gegen weitere Privatisierungen ausgesprochen. Da will Bartsch offensichtlich gegensteuern. In der Linken und in seiner Partei sei »durchaus streitig, inwieweit der Staat Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge selbst erbringen muß und inwieweit er ihre Erbringung gewährleisten muß.« Kontroversen gebe es auch in der Frage »inwieweit die Antwort auf Markt und Profitdominanz zwingend öffentlicher Dienst, administrative Regulative und öffentliches Eigentum sein müssen«. Das Parteiprogramm der Linkspartei.PDS stelle »nicht eine bestimmte Eigentumsform in den Mittelpunkt«. Denkbar sei außer öffentlichem Eigentum auch »progressive Entstaatlichung« als »notwendiger Teil einer Transformationsstrategie zum demokratischen Sozialismus«. Man darf gespannt sein, ob der Parteivorstand am Montag der Idee, mittels Privatisierungen zum Sozialismus zu kommen, mehrheitlich folgen wird.

Lnkszeitung.de, 09.07.2006
WASG plant bundesweite Kampagne gegen Privatisierung Gegen Verschleuderung öffentlichen Eigentums
Berlin (ppa). Felicitas Weck und Thomas Händel, geschäftsführende Bundesvorstandsmitglieder der WASG, haben jetzt ihre Absicht bekundet, gemeinsam mit Linkspartei, GlobalisierungskritikerInnen, Sozialverbänden und Gewerkschaften gegen die Privatisierung Front zu machen. „Mit der Verschleuderung öffentlichen Eigentums zur kurzfristigen Etatsanierung muss jetzt endlich Schluss gemacht werden“, so Weck und Händel am Sonntag. Die WASG habe bereits eine Arbeitsgruppe mit der Vorbereitung beauftragt und lädt die Linkspartei zu einem Arbeitstreffen ein, Möglichkeiten, Anforderungen und Realisierung einer Kampagne „Für eine solidarische Gesellschaft – gegen die Privatisierung öffentlichen Eigentums“ in Umsetzung der Parteitagsbeschlüsse der Linkspartei.PDS und der WASG zu bestimmen und diese Kampagne im Rahmen des Parteibildungsprozesses zu führen. Erste Beratungen sollen noch im Juli stattfinden. In einem Brief an den Parteivorstand der Linkspartei.PDS wird betont, dass der Kampf gegen Privatisierungen ein Kampf für die Schwächsten, für Demokratie, für soziale Gerechtigkeit und damit ein zentrales Markenzeichen linker Politik weltweit ist. Mit dieser Kampagne könne ferner der Parteibildungsprozess weiter politisiert und über die Mitgliedschaften beider Parteien hinaus erweitert werden.
Die WASG hatte auf ihrem Bundesparteitag im April u.a. die Kampagne „Für eine solidarische Gesellschaft – gegen die Privatisierung öffentlichen Eigentums“ beschlossen. Ähnlich beschloss die Linkspartei.PDS auf ihrem zeitgleichen Bundesparteitag in Halle/S. eine Kampagne „Privatisierungswahn stoppen – Öffentliche Daseinsvorsorge erhalten“.

Tagesspiegel, 10.07.2006
Linkspartei zankt um Privatisierung
Berlin – Zum zweiten Mal binnen weniger Tage versucht der Reformerflügel der PDS, die Partei auf mehr Realitätssinn einzuschwören. In einer Vorlage für die Sitzung des Parteivorstands an diesem Montag in Berlin schlägt Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch vor, auf eine geforderte Kampagne gegen die Privatisierung öffentlichen Eigentums zu verzichten. In dazu von ihm vorgelegten Thesen wirbt er in der Debatte für ein undogmatisches Vorgehen. In der Linken selbst sei die Haltung zur Rolle öffentlichen Eigentums „nicht unumstritten, sondern differenziert“. Bartsch schreibt: „Streitig ist durchaus, inwieweit der Staat Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge selbst erbringen muss und inwieweit er ihre Erbringung gewährleisten muss.“
Indirekt geht Bartsch mit seinem Vorstoß auch auf Distanz zum Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag, Oskar Lafontaine. Schon vor der Klausur der Bundestagsfraktion vergangene Woche in Rostock hatten führende Landespolitiker Lafontaines Staatsbegriff kritisiert. Im von Lafontaine durchgesetzten Gründungsmanifest für eine vereinigte Linkspartei heißt es, die Linke wolle „Schluss machen mit einer Politik, die das öffentliche Vermögen verkauft und damit die Bevölkerung enteignet“. Statt einer „neoliberalen Privatisierung“ wolle sie eine staatliche und kommunale Verantwortung für Bildung und Gesundheit, Wasser- und Energieversorgung, für Stadtentwicklung und Wohnungen, für öffentlichen Nah- und Fernverkehr sowie für wichtige Teile der Kultur. Bartsch hingegen argumentiert, auch eine „progressive Entstaatlichung“ könne notwendiger Teil einer „Transformationsstrategie zum demokratischen Sozialismus sein“.m.m.

Junge Welt, 10.07.2006
Abgeschrieben*: WASG will bundesweite Kampagne gegen Privatisierung starten
* Wir dokumentieren in Auszügen eine Medieninformation des Bundesvorstandes der WASG vom Sonntag: Der Bundesvorstand der WASG hat nachdrücklich seine Absicht bekräftigt, eine bundesweite Kampagne gegen Privatisierung zu starten. Felicitas Weck und Thomas Händel, geschäftsführende Bundesvorstandsmitglieder der WASG unterstrichen ihre Absicht gemeinsam mit Linkspartei, Globalisierungskritikern, Sozialverbänden und Gewerkschaften gegen die Privatisierung Front zu machen. »Mit der Verschleuderung öffentlichen Eigentums zur kurzfristigen Etatsanierung muß jetzt endlich Schluß gemacht werden«, so Weck und Händel am Sonntag.
Die WASG habe bereits eine Arbeitsgruppe mit der Vorbereitung beauftragt und lädt die Linkspartei zu einem Arbeitstreffen ein, Möglichkeiten, Anforderungen und Realisierung einer Kampagne »Für eine solidarische Gesellschaft – gegen die Privatisierung öffentlichen Eigentums« in Umsetzung der Parteitagsbeschlüsse der Linkspartei.PDS und der WASG zu bestimmen und diese Kampagne im Rahmen des Parteibildungsprozesses zu führen. Erste Beratungen sollen noch im Juli stattfinden. In einem Brief an den Parteivorstand der Linkspartei.PDS wird betont, daß der Kampf gegen Privatisierungen ein Kampf für die Schwächsten, für Demokratie, für soziale Gerechtigkeit und damit ein zentrales Markenzeichen linker Politik weltweit ist. Mit dieser Kampagne könne ferner der Parteibildungsprozess weiter politisiert und über die Mitgliedschaften beider Parteien hinaus erweitert werden. (…)

Neues Deutschland, 11.07.2006, URL: http://www.nd-online.de/artikel.asp?AID=93383&IDC=2
Linkspartei will mit Kampagne warten
WASG drängt auf Aktion gegen Privatisierung Von Tom Strohschneider
Zwischen Wahlalternative WASG und Linkspartei gibt es Unstimmigkeiten über Termin und Ausrichtung einer Kampagne gegen Privatisierungen. Der Vorstand der Linkspartei hat gestern bei einer Gegenstimme beschlossen, eine bundesweite Kampagne gegen Privatisierungen nicht vor Abschluss der Aktivitäten für einen Mindestlohn vorzubereiten. Mit dem Start entsprechender Aktivitäten ist demnach nicht vor 2007 zu rechnen. In einer von PDS-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch eingereichten Vorlage heißt es, »zwei Kampagnen gleichzeitig lassen sich nicht führen«. Außerdem seien die Forderungen »Keine Privatisierungen« bzw. »Den Privatisierungswahn stoppen« für eine politische Kampagne »zu unbestimmt und abstrakt«, also nicht geeignet. Der Vorstand möge stattdessen weiterhin regionale Aktivitäten und kommunale Kampagnen politisch und materiell unterstützen.
Darüber hinaus war in dem Papier darauf hingewiesen worden, dass »die Haltung zur Rolle öffentlichen Eigentums« auch in der Linken »nicht unumstritten« sei, etwa mit Blick auf Rolle und Aufgaben des Staates. Die »grundsätzliche Position« der Linkspartei bleibe davon aber unberührt. Der Parteivorstand müsse jedoch praxistaugliche Kriterien weiterentwickeln, so das Papier. Nach dessen Bekanntwerden hatte sich die WASG-Spitze am Wochenende in einem Brief an den PDS-Vorstand gewandt und nochmals die Notwendigkeit einer Anti-Privatisierungs-Kampagne bekräftigt. Die WASG strebt einen Kampagnen-Start im November an. Der Bundesvorstand hatte bereits Anfang Juli eine Arbeitsgruppe gebildet, die die Aktion »Für eine solidarische Gesellschaft – gegen Privatisierung öffentlichen Eigentums« vorbereiten soll. Erste gemeinsame Beratungen, so das Angebot an die Sozialisten, könnten am 15. Juli stattfinden. Die Linkspartei-Spitze gab gestern grünes Licht für die Teilnahme an diesem Gespräch, sieht aber noch weiteren Klärungsbedarf.
In der WASG-Spitze zeigte man sich gestern irritiert – nicht zuletzt, weil es in der Vorlage Bartschs heißt, Initiativen für eine Kampagne seitens des WASG seien der Linkspartei nicht bekannt. Zum Zeitpunkt, zu dem die Beschlussvorlage des PDS-Geschäftsführers verfasst wurde, hatte die WASG-Spitze ihre Arbeitsgruppe zwar noch nicht gebildet. Jedoch hätte man dies, so die Kritik, jederzeit – etwa während der Fraktionsklausur in der letzten Woche – in Erfahrung bringen können.

Junge Welt, 11.07.2006, URL: http://www.jungewelt.de/2006/07-11/038.php
Basis watscht Bartsch ab
Jörn Boewe
Dietmar Bartsch fand es gar nicht witzig. Eigentlich hatte der Geschäftsführer der Linkspartei.PDS gehofft, der Vorstand würde am Montag seinen Antrag, eine geplante Antiprivatisierungskampagne fallenzulassen, ohne viel Aufsehen durchwinken. Aber nach den zahlreichen wütenden Protestmails und Anrufen vom Wochenende war ihm schon klar, daß das schwierig werden würde.
Die Kampagne findet doch statt, aber nicht vor 2007. Auf diese salomonische Lösung verständigte sich der Parteivorstand am Montag nachmittag. Zur Vorbereitung wird ein gemeinsamer Arbeitskreis mit der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) gebildet, an dem für die Linkspartei die Vorstandsmitglieder Sahra Wagenknecht und Harald Werner beteiligt sein werden. Auf ihrem Bundesparteitag Ende April in Halle hatte die Linkspartei beschlossen, gemeinsam mit der WASG im Herbst eine »Kampagne zum Stopp des Ausverkaufs öffentlichen Eigentums und zur Zurücknahme der unsozialen Privatisierungspolitik im Bereich der Daseinsvorsorge« zu führen. Doch die Gegenoffensive des Apparats ließ nicht lange auf sich warten. Wie jW am Sonnabend berichtete, hatte Linkspartei-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch in einem Antrag an den Parteivorstand gefordert, von dem Vorhaben Abstand zu nehmen. Vordergründig argumentierte er, man könne neben der bereits laufenden Aktion zum Thema Mindestlohn keine zweite Kampagne führen. Wenn die im November beendet sei, stünde der Parteibildungsprozeß auf der Agenda und nicht eine neue Kampagne. In den Thesen, mit denen Bartsch seinen Antrag untermauerte, wird indes deutlich, daß es um mehr geht, nämlich um eine ideologische Rechtfertigung der Privatsierungspolitik, die Linksparteifunktionäre nicht nur in den Landesregierungen von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, sondern auch in zahlreichen Kommunen betreiben. Nahegelegt wird, daß Privatisierung ein Weg zur »Verbesserung der Finanzausstattung der Kommunen« sei. Unstrittig sei lediglich, daß die Linke Privatisierung »nicht aktiv« initiieren und vorantreiben solle. Während die Linksparteiführung das leidige Problem erstmal in einen Arbeitskreis verschoben hat, hält die Schwesterpartei WASG das Thema nach wie vor für zentral. »Mit der Verschleuderung öffentlichen Eigentums zur kurzfristigen Etatsanierung muß jetzt endlich Schluß gemacht werden«, hatten die WASG-Bundesvorstandsmitglieder Felicitas Weck und Thomas Händel in einer am Sonntag verbreiteten Erklärung gefordert. In einem Brief an den Linksparteivorstand hatte die WASG Ende letzter Woche vorgeschlagen, noch im Juli mit Arbeitstreffen zur Vorbereitung der Kampagne zu beginnen. »Privatisierung der Daseinsvorsorge greift in wesentliche demokratische Rechte ein«, bekräftigte Felicitas Weck die WASG-Position gestern gegenüber jW, »Wir können uns nicht immer stärker von Konzernen unter Druck setzen lassen.«

Jenseits der roten Linie. In Dresden haben Linkspartei-Politiker fuer die Privatisierung von oeffentlichem Wohneigentum gestimmt. Aus Finanznot.

Oskar Lafontaine will sie deshalb aus der Partei werfen. Jetzt haben sie ihn in einem geharnischten offenen Brief geantwortet

Es ist ein Konflikt, in dem es um viel geht – das Selbstverständnis der Linkspartei zwischen Realpolitik und Opposition. In Dresden haben neun Linkspartei-Stadträte kürzlich dem Verkauf der kommunalen Wohungsbaugesellschaft Woba an einen US-Investor zugestimmt. Dresden, zuvor hoch verschuldet, ist nach dem Verkauf schuldenfrei – allerdings auch frei von kommunalem Wohnungseigentum.
Oskar Lafontaine, Chef der Bundestagsfraktion der Linkspartei, hatte die Dresdner neun aufgefordert, die Partei zu verlassen. Die Partei dürfe bei der Privatisierung von öffentlicher Daseinsvorsorge nicht mitmachen. Dies sei für Linke die rote Linie.
Nun wehren sich die Dresdner Christine Ostrowski und Ronald Weckesser mit einem geharnischten offenen Brief. Sie votieren für „linke Realpolitik und gegen ideologische Symbolpolitik“. Den US-Investor habe man auf „langjährigen Kündigungsschutz und Mietpreisbegrenzungen“ festgelegt. In Dresden gebe es „erheblichen Wohnungsleerstand“, was die Privatisierung unproblematisch mache. Außerdem sei die „Konsolidierung der öffentlichen Finanzen keine neoliberale Spinnerei, sondern sozialpolitischer Imperativ“. Ganztagsschulen müssten auch bezahlt werden.
Der Brief ist ein Frontalangriff auf Lafontaines keynesianistische Grundthese, dass mehr Staat und mehr öffentliche Investitionen der Königsweg seien. Lafontaine, schreiben Ostrowski und Weckesser, „erweckt den Eindruck, dass öffentliches Eigentum unverzichtbar für die öffentliche Daseinsvorsorge ist. Wenn aber Wohnen so existenziell ist, dass es nicht privatisiert werden darf, bleibt zu fragen, ob die Verstaatlichung von Bäckereien auf die linke Agenda gehört, ist doch das tägliche Brot mindestens so unentbehrlich.“
Der Woba-Verkauf war nicht nur in der Linkspartei scharf angegriffen worden. Auch Mietervereine bezweifeln, dass sich der US-Investor langfristig an die Abmachungen hält.
Gegen die neun sind inzwischen Ausschlussanträge eingereicht worden. Der Dresdner Bundestagsabgeordnete Michael Leutert sagte zur taz, sie hätten gegen den Willen der Partei den Verkauf betrieben, ohne über Alternativen wie Teilverkauf oder die Bildung von Mietergenossenschaften nachzudenken. Er ist prinzipiell gegen Ausschlüsse: „Gesinnungspolizei hatten wir früher.“ Wahrscheinlicher als Ausschlüsse scheint eine Spaltung der Linksfraktion im Stadtrat, weil sich die Gegner des Verkaufs überfahren fühlen.
Der Linkspartei-Fraktionschef im Sächsischen Landtag, Peter Porsch, lobte den Brief als Versuch, auf die „argumentative Ebene“ zurückzukehren. Wie viel kommunales Eigentum nötig sei, sagte er der taz, „ist kein Problem der PDS, sondern der Gesellschaft“. Mit „dogmatischen roten Linien“ löse man es nicht.
Die Dresdner Bundestagsabgeordnete Katja Kipping meinte indes zur taz, dass das Ja zum Woba-Verkauf „zu einem Dammbruch“ führe. Der Widerstand gegen Privatisierung von Wohnungen sei schwieriger geworden – weil doch sogar Linke in Dresden dafür waren.
Quelle: taz, 18.3.2006

Japans Postreform – ein Lehrstueck

Der durchschlagende Wahlsieg der Liberaldemokraten (LDP) am letzten Sonntag hat die Kräfteverhältnisse im japanischen Parlament derart grundlegend geändert, dass Hoffnungen auf eine Beschleunigung des Reformkurses berechtigt scheinen. Die beiden Regierungsparteien, die LDP und die buddhistisch angehauchte Neue Komeito, verfügen dank ihrer Zweidrittelmehrheit über die Möglichkeit, sich gegebenenfalls über eine Reformblockade konservativer Kräfte im Oberhaus hinwegzusetzen. Die Taktik von Ministerpräsident Junichiro Koizumi, 37 abtrünnige LDP-Abgeordnete, die im August gegen seine Postreformvorlage gestimmt hatten, kurzerhand aus der Partei hinauszuspedieren, hat sich ausbezahlt. Koizumi hat seine härtesten Widersacher, die sich schon immer innerhalb der LDP und nicht auf den Oppositionsbänken fanden, für einige Zeit zum Schweigen gebracht. Das Volk vertraut Koizumi mehr noch als der LDP, und es hat ihm nun den Rücken gestärkt.
Angelpunkt und Grundstein für den grössten Wahlerfolg der LDP in ihrer 50-jährigen Geschichte ist die von Koizumi durch alle Böden hindurch verfochtene Postprivatisierung. Schon früh trat der Mann mit der wilden Löwenmähne für dieses Projekt ein; 1992 forderte er als Postminister zum Entsetzen der LDP-Oberen die baldige Entlassung der Postsparkasse in die Privatwirtschaft. In seiner Regierungserklärung von 2001 schlug Koizumi dann härtere Töne an und brandmarkte die Staatspost als eine der Hauptursachen für die Wirtschaftsmisere in Nippon. Nun verhält es sich tatsächlich so, dass die Post am japanischen Kapitalmarkt aufgrund ihrer Grösse, vor allem aber wegen ihrer Privilegien wie der Elefant im Porzellanladen herumtollt. Japans Post ist mit ihren 280 000 Angestellten und 25 000 Filialen nicht nur eine viel zu grosse Monopolistin für die Zustellung von Briefen, sondern sie verwaltet über ihr Sparkassen- und Lebensversicherungsgeschäft die immense Summe von umgerechnet 4400 Mrd. Fr. Damit übertrifft die Post die grösste Bank der Welt, Citicorp, um Längen – womit zu Rentabilität und Effizienz aber nichts gesagt ist.
Es ist kein Zufall, dass Koizumi mit der Vorbereitung der Postprivatisierung Heizo Takenaka betraut hat, denn Japans Staatsminister für Wirtschaftspolitik brachte zuvor die Sanierung des Bankensektors massgeblich voran. Bank- und Postreform sind eng miteinander verquickt. Die Gesundung des Finanzsektors wird nicht nachhaltig sein, wenn die neu formierten Banken nicht mit gleich langen Spiessen wie die Postsparkasse ins Feld ziehen können. Die mit einer Staatsgarantie ausgestattete Postsparkasse zahlt keine Steuern; auch die Pflicht zur Unterlegung ihres Geschäfts mit Eigenkapital und Mindestreserven fehlt. Vier von fünf Japanern unterhalten bei der Post ein Bankkonto, was nicht weiter verwundert, weil die Zinsen sowieso vernachlässigbar gering sind, die Kommerzbanken aber – sinnvollerweise – keinen unbeschränkten Einlegerschutz mehr gewähren. Die Marktverzerrung ist evident wie auch die schleichende Verstaatlichung des Bankgeschäfts überhaupt. Klüngelwirtschaft, Korruption und Geldverschwendung feiern in diesem Umfeld Urständ.
Ausser der an und für sich schon untolerierbaren Unterminierung des privaten Bankensektors hat das Post-Füllhorn noch andere negative Konsequenzen. Die Postsparkasse gehört zusammen mit der staatlichen Rentenkasse zu den schlagkräftigsten Machtinstrumenten der Mandarine in der Ministerialbürokratie. Innerhalb des Dreiecks Wirtschaft – Politik – Bürokratie verfügt die letztgenannte Institution über viel Macht, was sich just bei der Staatspost auf fatale Weise bemerkbar macht. Die Mechanik zur Umleitung der Finanzströme nach dem Gutdünken der Spitzenbeamten des Finanzministeriums ist im Prinzip seit fünfzig Jahren intakt. Die mit der Postsparkasse geäufneten Mittel werden nämlich im Rahmen des Fiscal Investment and Loan Program (FILP) – es wird wegen seines Gewichts im Volksmund das «zweite Budget» genannt – an zahlreiche staatsnahe Agenturen ausgeliehen; mit dem Rest werden Staatsobligationen gekauft. Dieser riesige Schattenhaushalt entzieht sich weitgehend der parlamentarischen Kontrolle und nährt den Verwaltungsapparat. Marktkriterien spielen bei der Verteilung der Gelder keine Rolle, persönliche Beziehungen und die Fortführung des bisherigen Ausgabengebarens dagegen schon. So etwas verträgt sich schlecht mit Marktwirtschaft.
Die OECD hat vor Jahren anhand des Fiaskos mit den staatlichen Eisenbahnen interessantes Anschauungsmaterial zur Effizienz von FILP-Programmen geliefert. Die während zweier Dezennien Verluste einfahrende Japan National Railways (JNR) wurde 1987 in sieben Unternehmen aufgespalten. Der Staat übernahm von ihr via JNR Settlement Corp. Schulden von umgerechnet rund 300 Mrd. Fr. sowie Aktiven, mit denen man diese Verbindlichkeiten decken wollte. Die Netto-Verbindlichkeiten stiegen aber in der Folge trotz dem Verkauf von Land unablässig, bis 1998/99 die Quittung erfolgte. Mit dem Transfer eines Defizitbetrags von wiederum 300 Mrd. Fr. in die ordentliche Rechnung erfüllte die Regierung die gegenüber den Staatsbahnen implizit abgegebene Garantieleistung. Die Aktiven reichten also gerade zur Bezahlung von Renten und Zinsen. Selten ist dem in- und ausländischen Publikum so klar vor Augen geführt worden, von welch zweifelhafter Natur die Werthaltigkeit von Vermögenswerten staatlicher Agenturen Japans sein kann.
Wenn sich Koizumi jetzt anschickt, den Koloss Post zu zerschlagen, steht viel auf dem Spiel. Der Plan zur Privatisierung der Post ist mutig, zählen wird aber nur dessen Umsetzung. Früh schon ist auch der Spitzenverband der Wirtschaft, Keidanren, auf den Koizumi-Kurs eingeschwenkt, und noch vor Bekanntgabe des neuen Kabinetts soll nun das Postreformgesetz verabschiedet werden. Es ist erfrischend, wenn sogleich aufs Tempo gedrückt wird, obwohl der bisherige Zeitplan zur vollen Privatisierung der Post alles andere als ambitiös wirkt. Bis 2007 werden die vier Geschäftsbereiche Briefzustellung, Postbank, Lebensversicherung und Verwaltung der Schalterdienste unter ein gemeinsames Holdingdach gelotst. Erst 2017 würde dann nach stufenweisem Vorgehen die Privatisierung mit der Placierung der letzten Postbankaktien abgeschlossen.
Obwohl der Zeitraum von einem Dezennium zwischen Start- und Zielpunkt der Postreform skeptisch stimmt und Koizumi angeblich schon 2006 zurücktreten will, gibt es mehrere ermutigende Zeichen. Noch nie, auch nicht unter Tanaka in den siebziger und unter Nakasone in den achtziger Jahren, hatte eine Regierung so freie Hand wie jetzt die Administration Koizumi. Partikulärinteressen werden einen schweren Stand haben. Das wirtschaftliche Umfeld für beherzte Reformen ist ebenfalls günstig. Die Deflation scheint bald besiegt zu sein, die Bilanzen der Banken sind grossenteils in Ordnung, und das Wachstum ist mit zuletzt geschätzt mehr als 3% in Anbetracht der sinkenden Erwerbsbevölkerung sehr ansprechend. Zweifellos muss Koizumi noch andere Reformen anpacken. Das im Umlageverfahren organisierte Rentensystem lässt sich nicht halten. Noch vordringlicher ist eine Gesundheitsreform; die rasche Überalterung zwingt zu einem Umbau. Gemessen werden wird die Regierung Koizumi aber vor allem an der Postprivatisierung. Gelingt sie, ist Japan ein gutes Stück weiter. Nach Marktkriterien vergebene Kredite einer privatisierten Postsparkasse würden Japan nachhaltig revitalisieren.

Neue Zürcher Zeitung, 17. September 2005