Der Historiker Piero Bevilacqua schreibt in der taz vom Ende der großen modernen Erzählungen des “Fortschritts”. Nach der Niederlage der sozialistischen Utopien sei nun auch die kapitalistische Fortschrittserzählung des Neoliberalismus am Ende:
Seit etwa 30 Jahren jedoch haben die bürgerlichen Eliten eine breit gefächerte kapitalistische Gegenoffensive eingeleitet – die neoliberale Erzählung. Im Mittelpunkt dieses Romans einer Wiedergeburt des Fortschritts steht die Freiheit der Individuen, die Ausschaltung der Bürokratie, der freie Markt als einzige Regelungsinstanz der zwischenmenschlichen Angelegenheiten. Diese neue Heiligenlegende hat eine unglaubliche Faszination ausgeübt. Auch die traditionellen Parteien der Linken konnten sich ihr nicht entziehen. Liberalisierung, Privatisierung, Wettbewerb, Flexibilität befielen die gute, alte Sozialdemokratie wie Parasiten und saugten sie aus. […]
Aber auch das ist vorbei. Denn was haben uns die Apologeten dieser jüngsten kapitalistischen Erzählung noch zu bieten? Weitere Privatisierungen, totale Steuerentlastung? Was hat das wirklich mit unserer Sehnsucht nach einem Leben in Würde zu tun? Nach drei Jahrzehnten neoliberaler Propaganda ist das fantastische Resultat, dass die nachfolgenden Generationen schlechter leben werden als wir und unsere Vorfahren. Zum ersten Mal muss im Westen eine politische Erzählung ohne Happy End auskommen. Wie in der Wegwerfgesellschaft die Produkte sind auch die Worte zu Abfall geworden.
Klar ist: Die Gemeingüter besitzen eine außerordentliche Entfaltungskraft der Erzählung. Sie tragen eine jahrhundertealte menschliche Erfahrung in sich, die der privaten Aneignung von Land, Wald und Wasser, Güter, die einst öffentlich waren. Unsere Gegenwart ist die Epoche, in der dieser Raub eine enorme Beschleunigung erfahren hat.
Die Erzählung von der Wiederaneignung des Verlorenen besitzt ein enormes Potenzial. Dazu gehören auch zentrale Errungenschaften des alten Wohlfahrtsstaates, die der aggressive Neoliberalismus in Zweifel gezogen hat. Dazu gehört etwa das alte britische Gesundheitssystem, das mehr oder weniger umfassend in den anderen europäischen Ländern übernommen wurde und welches das unbeschränkte Recht auf das Gemeingut Gesundheit gewährleistete. Ein Gut, das sich nicht auf die Medizin im engeren Sinne beschränken lässt, sondern weite Bereiche des sozialen Lebens einschließt, von der Debatte über die Atomenergie bis zur Luftverschmutzung. Gleiches gilt für die Wiederaneignung der Gemeingüter Wissen und Bildung für alle.
So weit, so gut. Der Begriff der Erzählung betont ganz plausibel die Materialität von Wissensformationen in Form von Symbolen, Ritualen, Praktiken. Der hegemoniale Kampf um Wissen und Wahrheit, um die richtige Sicht auf die „Realität“, wird alltäglich im gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Rationalitäten, Werte und Lebensweisen ausgetragen. Individuen müssen bspw. mit Blick auf das allmorgendliche Aufstehen auf ihr Arbeitsvermögen hin subjektiviert bzw. normalisiert werden. Die Verausgabung von Arbeitskraft wird zur Regelmäßigkeit, zur Normalität – und diese Normalität nimmt historisch unterscheidbare Formen an.
Ziemlich merkwürdig wird die Argumentation dann wie ich finde am Ende des Kommentars:
Im Grunde ist die Wiederaneignung der Gemeingüter einfach Ausdruck der Sehnsucht der Individuen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederzufinden, der sie aus ihrer Isolation erlöst – ohne ihnen dabei ihre Freiheit zu nehmen. Es ist die politische Erzählung, die den Menschen vor der Angst der Moderne beschützen und ihnen eine Geschichte aufzeigen kann, die Sinn hat und die das Unbehagen an der Gegenwart kritisch beleuchtet. Sie bringt unterschiedliche Interessen zusammen und ermöglicht die Partizipation aller sozialer Schichten – eine Perspektive, die in den letzten Jahren bei allen völlig aus dem Blickfeld geraten ist.
Die Rede von der Sehnsucht nach Zusammenhalt wirkt auf den ersten Blick ja irgendwie esoterisch. Auf den zweiten Blick wäre mit Nikolas Rose zu fragen, was durch ein „Regieren durch Community“ gewonnen ist. Rose zeichnet den Diskurs um das Gemeinwohl seit den 1960er Jahren nach und kommt zu dem Schluss, dass eine Reihe von Diskursverschiebungen eine zunächst kritische Gegenerzählung zur fordistischen Massengesellschaft erfolgreich integriert hat. Und damit
dazu beigetragen [haben], dass ‚Gemeinschaft‘ als Therapie für alljene Übel aufgewertet wurde, die das Soziale gar nicht erst in den Blick bekam, ja vieleicht sogar für das Übel des Sozialen selbst. Was freilich auf diese Weise Gestalt annahm, war eine neue Art und Weise, einen Bereich des Regierens abzugrenzen, dessen Kräfteverhältnisse mobilisiert, integriert und in neuen Programmen und Techniken genutzt werden konnten. Diese beruhen auf der Instrumentalisierung persönlicher Loyalitätsbeziehungen und der Bereitschaft, aktiv Verantwortung zu übernehmen. vgl.: Rose, Nikolas. 2000. Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens. In: Ulrich Bröckling u.a. (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 71-109.
Vielleicht bin ich ja zu mißtrauisch, wenn Gemeinsamkeiten so sehr betont werden. Ich frage mich allerdings schon, ob in einem solchen Commons-Perspektive Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht etwas unterbelichtet sind. Die Formulierung „Partizipation aller sozialer Schichten“ ist ja letztlich auch eine recht machtvolle Erzählung. In den Worten von Thomas Sablowski:
Ob ein Verhältnis beispielsweise als Klassenkampf oder als Sozialpartnerschaft begriffen wird, legt ganz unterschiedliche Verhaltensweisen nahe und beeinflusst die Entwicklung des Verhältnisses.
Ein schon etwas älterer Diskussionbeitrag der Bundeskordination Internationalismus (BUKO) zu den Commons (hier als PDF) thematisiert u.a. diese Frage.
Hallo Silke!
Danke für deinen Hinweis. Ich habe eher auf den Gemeinschafts-Diskurs abgezielt. Ich hatte Nikolas Rose aber auch tatsächlich falsch zitiert. Der schreibt:, dass die ‘Gemeinschaft’ als Therapie für alle Übel erscheint, nicht das Gemeinwohl. Ich hatte den Text neulich gelesen und fand ihn mit Blick auf die Integration kritischer Potentiale der Commons-Debatte in – grob gesagt – Herrschaftsdiskurse ganz lesenswert. (Zu einem solchen morphen vgl. den Text von Christoph Spehr und Armin Stickler in „Tarzan, was nun?“ => http://www.assoziation-a.de/dokumente/tarzan_was_nun.pdf [Seiten 211ff.])
Bestes
Niels
Hi Nils,
kann mal jemand den Gemeinwohldiskurs zur Commonsdebatte in Beziehung setzen? Das sind ja zwei unterschiedliche Dinge und ist eine Arbeit, die noch geleistet werden müsste. Tipps willkommen. Herzlichst
Silke