Tausende von Syndikalisten laufen herrenlos herum.
(aus einem streng vertraulichen Spitzelbericht vom 19. April 1920)1
In Zeiten des vielleicht größten Geheimdienstskandals der Bundesrepublik lohnt auch ein Blick in die Geschichte. Denn überraschenderweise weiß das weltweite Gewebe bisher fast nichts2 über einen illegalen staatlich-militärischen Spitzeldienst, der vor allem nach der Novemberrevolution bis Ende 1922 im westfälischen Münster sein Unwesen trieb: das Büro Kölpin.
Benannt war das Büro nach dessen Leiter, dem Kriminalbeamten Heinz Kölpin (1878–1965). Er „wurde bereits vor dem Ersten Weltkriege mit schwierigen Aufgaben im Ausland betraut“3, wie die Westfälischen Nachrichten seine frühe Spitzeltätigkeit für den Stellvertretenden Generalstab der Armee euphemistisch bezeichnete. In den Niederlanden überwachte er beispielsweise deutsche Emigranten, andere Aufträge führten ihn nach Belgien und England. Während des Ersten Weltkriegs war er „im Spionageabwehr- und Kriminalermittlungsdienst des VII. Armeekorps tätig“4. „Bei Eintritt der Revolution“, so eine Selbstauskunft Kölpins,
wurde ich zum Wehrkreiskommando VI [Münster] berufen, um die Organisation im Korpsbezirk ins Leben zu rufen, die es ermöglichte, auf illegalem Wege Nachrichten aus den Parteien des Ruhrbezirks, die sich hauptsächlich auf die linksradikalen Parteien erstreckte, zu erhalten.5
Kölpin wurde Politischer Kommissar bei der Generalstabsabteilung I c (‚Feindnachrichten‘) beim Wehrkreiskommando VI unter Oskar von Watter6; sein „externes ’schwarzes‘ Büro“7 bezog er in einem anderen Gebäude, so daß das Wehrkreiskommando jederzeit behaupten konnte, daß es „niemals Agenten beschäftigt hat“8. Zur Niederschlagung des Arbeiteraufstands im März 1920 hat Kölpin einen schwer zu bestimmenden aber sicher erheblichen Anteil ‚geleistet‘. Er selbst lobte seine Arbeit so:
Durch diese Tätigkeit war das Wehrkreiskommando über sämtliche Bewegungen im Ruhrbezirk orientiert und konnten deshalb auch die Regierungstruppen bei den Märzunruhen erfolgreich eingreifen.9
Und:
Die einzelnen Truppenkommandos erhielten von hier aus Führerlisten der radikalen Parteien, Verzeichnisse der politischen Führer, der Vertrauensleute, welche für uns hinter der Front tätig waren, Stadtpläne mit genauen Einzeichnungen der Wohnungen der Kampfführer usw.10
Die Quellen, die Kölpin in seinem nachrichtendienstlichen Tagesgeschäft anzapfte, waren vielfältig. Als Mitarbeiter des Wehrkreiskommandos VI war es ihm möglich
mit jeder staatlichen, kommunalen oder sonstigen Stelle in Verbindung zu treten und sie, falls erforderlich, zu einer Art Amtshilfe zu veranlassen“11.
Dazu gehörten auch Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften, die Kölpin „unter anderem“12 Akteneinsicht gewährten. Zudem wurden ihm „die Berichte von verschiedenen Korrespondenz- und Pressebüros regelmäßig zugestellt“13, wobei damit auch Militärs und „Personen, die politischen Bünden nahestanden“14, gemeint waren. Als Beispiel etwa das Korrespondenzbüro Hansa, welches sich „für die Ziele und Richtung der Organisation Escherich e.V.“15 einsetzte. Der kurz Orgesch genannte eingetragene Verein war laut Wikipedia „einer der einflussreichsten republikfeindlichen Selbstschutzverbände im Deutschen Reich“16. Zudem warb das Büro etliche „Agenten und Vertrauensleute“17, darunter viele Kriminalbeamte. Selbstauskunft Kölpin:
Es wurden in allen Städten des Ruhrbezirks bei den Behörden Vertraute in der politischen Bewegung stehende Persönlichkeiten gewonnen, die unter Deckadressen ihre Weisungen erhielten und solche wieder unter einer hier bestehenden Deckadresse sandten. Gleichzeitig wurden von hier aus in allen linksstehenden Parteien Hauptführer bezw. Vertrauensleute geworben, welche die wichtigsten geheimsten Vorkommnisse nach Bezahlung höherer Summen nach hier mitteilten.18
Kölpin verfügte außerdem über eine Karthothek,
worin Name des Rotgardisten, Geburtsdatum und Ort, Wohnung, Parteizugehörigkeit, Tag der Festnahme, verurteilendes Gericht und Aktenzeichen eingetragen wurde19
sowie ein ständig wachsendes Archiv mit Personalakten zu Akteuren des linken Spektrums und eine Zeitungsausschnittsammlung.
Er war Mitglied der 1921 aufgelösten (bereits erwähnten) Organisation Escherich, vom 1922 verbotenen Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund und beim Stahlhelm; außerdem verfügte er über eine solide monarchistische Grundeinstellung. Im Dezember 1922 wurde Kölpin – angeblich aus gesundheitlichen Gründen – pensioniert. Nach den Angaben seiner Frau war die angegriffene Gesundheit aber lediglich für die Pensionsansprüche vorgetäuscht; so konnte er sich am aktiven Widerstand im inzwischen von Belgiern und Franzosen besetzten Ruhrgebiet – dem sogenannten Ruhrkampf – beteiligen.
Am 24. Juni 1923 verübten er und zwei Unbekannte ein Sprengstoffattentat auf das Gebäude der sozialdemokratischen Zeitung Volkswille in Münster.20 Über die folgenden Jahre ist nichts bekannt. Am 1. August 1928 gründete er dann mit zwei Teilhabern die Detektiv-Auskunftei Langer, Kölpin & Föller, die während der gesamten NS-Zeit bis wenigstens 1953 bestand.21 Kölpins Rolle im Nationalsozialismus liegt ebenfalls völlig im Dunkeln. Nur soviel:
Am 12. Juni 1933 machte Kölpin dem Gau Westfalen-Nord der NSDAP schriftlich Mitteilung über sein Aktenmaterial. Bei einer ersten Überprüfung erklärte die Gestapostelle Recklinghausen, daß das Material ‚z.T. für eine Auswertung brauchbar und wertvoll, z.T. jedoch, auch hinsichtlich seiner Auswertungsmöglichkeit und Brauchbarkeit überholt sei‘. Im Jahre 1934 erklärte die gleiche Stelle dann, es handele sich ‚um längst überholtes Material, das nur Archivzwecken dienlich sein könnte‘, ein Urteil, das wohl kaum für die Akten des Polizeipräsidiums Bochum mit Berichten über linksradikale und rechtsradikale Gruppen aus den Jahren 1929-1932 gelten kann, die die Gestapo übersehen haben muss. Nach längeren Verhandlungen zwischen verschiedenen Dienststellen und mit Kölpin wurde das Material schließlich am 14.03.1935 vom Staatsarchiv Münster übernommen.22
1943 wurde Kölpins Büro ausgebombt und ins etwa 20 km entfernte Altenberge verlegt. 1957 kehrte er nach Münster zurück.
Dem verdienten Altersjubilar, der heute noch eifrig die politischen Ereignisse verfolgt, im übrigen in stundenlangen Spaziergängen, auf denen ihn sein treuer Dackel begleitet, seine Gesundheit festigt,
so die Westfälischen Nachrichten am 20. April 1963, Kölpins Ehrentag, „gelten unsere herzlichen Glückwünsche“23. Zwei Jahre später starb der ‚verdiente‘ Bürger der Stadt Münster, Heinz Kölpin, im Alter von 87 Jahren.24
- Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen (LAV NRW W), Büro Kölpin Nr. 179 [↩]
- Eigentlich findet sich nur die Beständeübersicht aus dem LAV NRW W und ein zweiteiliger Artikel (pdf1, pdf2), den Erhard Lucas 1972 für Kritische Justiz verfasste; er zitiert dort aus Akten des Bestands. [↩]
- Westfälische Nachrichten, Münster, Nr. 92, 20./21. April 1963, S. 14; ganz ähnlich: Münstersche Zeitung, Nr. 92, 20. April 1953, S. 7 [↩]
- Rainer M. Münzberg, Das Nachrichtenbüro des Politischen Kommissars Kölpin in Münster zu Beginn der zwanziger Jahre, Prüfungsarbeit der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, Abteilung Münster, 1974, Dozent: Dr. F.W. Saal, S. 5; die Arbeit befindet sich in der Bibliothek des LAV NRW W [↩]
- LAV NRW W, Büro Kölpin Nr. 154, Bl. 9; nach: Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 6 [↩]
- „Am 21.01.1919 übernahm Generalleutnant v. Watter auf Ersuchen der Volksbeauftragten das Oberkommando an Rhein und Ruhr in der Stellung eines Kommandierenden Generals des VII. Armeekorps. Nach der Umbildung der alten Armee zur Reichswehr wurde v. Watter am 1.10.1919 Kommandeur der Reichswehrbrigade 7 und zugleich Befehlshaber des neugebildeten Wehrkreises VI, der räumlich die Provinzen Hannover, Westfalen und die Länder Braunschweig, Bremen, Oldenburg, Lippe und Schaumburg-Lippe umfasste. Die Reichswehrbrigaden 7 (Münster) und 10 (Hannover) bildeten zusammen die 6. Division. Ein Wehrkreis war etwa doppelt so groß wie ein früherer Armeekorpsbezirk, aber mit wesentlich geringerer Truppenzahl; trotzdem nahm der Umfang der Verwaltung erheblich zu. Befehlsstelle des Wehrkreises war das Wehrkreiskommando mit den verschiedenen Generalstabsabteilungen I a (Führung), I b (Transport, Nachschub) und I c (‚Feindnachrichten‘) und Stabsabteilungen. Nächst höhere Befehlsstelle waren die beiden Reichswehrgruppenkommandos 1 und 2, die jeweils mehrere Divisionen umfassten. Der Wehrkreis VI gehörte zum Reichswehrgruppenkommando 2 in Kassel.“ Nach: LAV NRW W, Findbuch B 138, Büro Kölpin, Münster, Bearbeiter: Jens Heckls, 14.03.2007, S. 4f. [↩]
- LAV NRW W, Findbuch B 138, S. 7 [↩]
- LAV NRW W, Büro Kölpin Nr. 228; nach: Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 15 [↩]
- LAV NRW W, Büro Kölpin Nr. 154; nach: Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 25f. [↩]
- LAV NRW W, Büro Kölpin Nr. 154, Bl. 9; nach: Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 40 [↩]
- Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 20 [↩]
- Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 20 [↩]
- Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 20 [↩]
- Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 20; Münzberg schätzt, daß Kölpin mit etwa 20 bis 25 solcher Büros in Verbindung stand. Er gibt das Beispiel, wie sich der Provinzial-Hilfsverband tarnte: „Wir haben hier, um unsere Tätigkeit gewissermassen zu cachieren, eine G.m.b.H. gegründet, die sich in der Hauptsache mit Reklame und mit der Herausgabe von sogenannten Bezugsquellen-Nachweisen bzw. Handels- und Industrie-Anzeigern in den einzelnen Tageszeitungen beschäftigt.“ LAV NRW W, Büro Kölpin Nr. 264, Schreiben vom 20. Juli 1921; nach: Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 20f. [↩]
- LAV NRW W, Büro Kölpin Nr. 9, Schreiben des Leiters des Büros, M. Müller, vom 2. März 1921 an Kölpin; nach: Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 59, Fußnote 23 [↩]
- http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Escherich [↩]
- Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 22; Münzberg schätzt die Anzahl auf etwa 100 Personen. Ebenda, S. 25 [↩]
- LAV NRW W, Büro Kölpin Nr. 154, Bl. 9; nach: Münzberg, Nachrichtenbüro, S.22 [↩]
- LAV NRW W, Büro Kölpin Nr. 154, Bl. 8; im Anhang von Münzbergs Arbeit sind beispielhaft einige dieser Karteikarten dokumentiert (Nr. XVII und XVIII); nach: Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 44 [↩]
- siehe auch: http://www.westfaelische-geschichte.de/chr296 [↩]
- Alle Angaben zu Kölpin nach: Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 6ff. [↩]
- LAV NRW W, Findbuch B 138, S. 6 [↩]
- Westfälische Nachrichten, Münster, Nr. 92, 20./21. April 1963, S. 14 [↩]
- Alle Angaben zu Kölpin nach: Münzberg, Nachrichtenbüro, S. 8f. [↩]
Nur zur weiteren Information:
Kölpin war NSDAP-Mitglied seit dem 31.05.1937, SS-Mitglied seit dem 1.4.1938.
Ab 1.9.1936 ehremamtliche Mitarbeiter des SD-Hauptamtes, am 9.11.1942 zum SS-Ustuf ernannt und 1944 Leiter der SD-Außenstelle Münster.
Bundesarchiv R58/855 Seite 173
https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/ec4027e6-fd5f-4045-bc2e-9a756556b444/
Viele Grüße
Frank