Die Unterscheidung zwischen den 99 % und den 1 % war und ist auch deshalb so brisant, weil sie den überaus hartnäckigen Blick in die drei Richtungen nach Oben, Unten und auf die Mitte nicht mitmacht. Die Rede von der Mittelschicht oder einer middle class hat seit über einem Jahrhundert vor allem die ökonomisch geleitete Gesellschaftsanalyse vom „Oben“ abgelenkt und auf die Mitte fokussiert. Genauer gesagt: auf die weiße Mitte des Westens. Im Notfall kamen auch mal die „gefährlichen Klassen“ ins Blickfeld. Ob die Mitte wuchs oder schrumpfte, an der Leine von denen da oben hing oder sich vor dem Abstieg zu denen da unten fürchtete, ob als ihr Zentrum das Medianeinkommen oder eine vergleichbare Aufteilung der Vermögen galt, wen sie ein- und wen sie ausschloss – das alles kann jahrzehntelang hin- und hergewendet werden und bringt dabei einen deutlichen herrschaftsstabilisierenden Mehrwert.
Ein Beispiel dafür ist die am 14.12.2015 veröffentlichte Studie der Konrad Adenauer Stiftung (KAS) über „Das Vermögen der mittleren Einkommensschicht in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Was wissen wir über die Mittelschicht in Deutschland?“ Die Titelgebung spricht Bände: was „die Mittelschicht“ ist, erschließt sich über die Erforschung „der mittleren Einkommensschicht in Deutschland“. Ihr Dreh- und Angelpunkt ist folgerichtig das Medianeinkommen als Mittelwert und die entsprechenden Abweichungen nach unten (hier 60%) und nach oben (hier 200%) bestimmen den Umfang der Schicht – da zählt die deutsche Mittelschicht schon man locker 78 % der Bevölkerung. Die Botschaft: die Mittelschicht schrumpft nicht nur nicht, sondern sie ist stabil. Ein Anker des deutschen Kapitalismus. Die Vermögensverteilung wird durchgängig mit Bezug auf diese Einkommensgrößen und die entsprechenden Schnitte angesetzt. Die langandauernde Prekarisierung, welche die alte Mittelklasse zerreisst, wird ignoriert. EIne detaillierte Analyse der Ab- und Aufwärtsbewegungen gibt es nicht. Der Rest sind ein respektables Rechenwerk, absehbare Reaktionen („Mittelschicht in Deutschland hält fast 70 % des Vermögens“, FAZ v.15.12.) und gute Laune (S.4: „…kommt unsere Studie nicht zum Ergebnis, die Mittelschicht würde gegenüber den Reichen so ins Hintertreffen geraten, dass von einer fundamentalen Ungerechtigkeit unserer Wirtschaftsordnung zu sprechen wäre.“). Die krassen Einkommens- und Vermögensunterschiede in der obersten Gruppe aufgrund des Avancements der „höchsten Vermögen“ könnten nicht vailde erfasst werden (S.11) und die dort unten sind ohnehin faktisch kein Gegenstand der Studie (S.22). Im Vorbeigehen – und im Text – wird zugleich die Langzeitanalyse Pikettys, aus der eine radikale verteilungspolitische Wende folgt, als abseitig abgetan. Ein Blick auf die Vermögenspreisentwicklung wäre hilfreich gewesen. Und, nicht zuletzt: während die neue Studie des Pew-Instituts für die USA ausgepägte Verschiebungen nachweist (erstmals übertreffen „Oben“ und „Unten“ die „Mitte“) und etwa in der Washington Post am Wochenende die Frage nach der sozialen Basis der rechten Trump-Revolte aufgegriffen wird, bleiben in der KAS-Studie die politischen Implikationen der schwankenden und prekären sog. „Stabilsierung“ der deutschen Mittelklasse aussen vor. Ein Beispiel: wenn sage und schreibe 72,2 % des Bruttovermögens der mittleren Einkommensschicht auf Immobilienbesitz entfallen (31), muss die im letzten Jahrzehnt unübersehbar explosive Marktentwicklung in diesem Bereich als zentraler Prozess der Destabilisierung und Umverteilung angesehen werden – ein Aspekt, dessen Bedeutung sich in diesem Text jedoch kaum widerspiegelt.
Ganz offensichtlich ist der Untersuchung die Gerechtigkeitsfrage gleichgültig.