Wem gehört der Berliner Fernsehturm?

10118055274_860ef6d42e_m
Vladimir Tkalčić CC BY-NC-ND 2.0

Es gibt Entscheidungsspielräume in der Stadtplanung, in der Um- und Ausgestaltung sozialer Räume und von Wohnhäusern. Es muss sich nicht alles ausschließlich nach den Notwendigkeiten von Eigentums- und Kapitalbildung richten. Stadt als Ort zum Leben lässt sich definieren nach ästhetischen und auf die Herstellung menschlicher und würdevoller Verhältnisse zielenden Kriterien.

Die Henselmann-Stiftung fordert eine Architektur zum Wohle aller Menschen, die sich in der Stadt bewegen und in ihr leben. Sie erhebt den städtebaulichen Anspruch sozialer Stadtentwicklung. Der Film  Verdrängung hat viele Gesichter thematisiert entlang von individuellem Kapitalzugang und damit verbundener Eigentumsbildung die Veränderung eines Wohnquartiers in Berlin-Treptow, das zur DDR gehörte: Er zeigt, wie ein Ort sozialen Lebens zerstört wird und Versuche des Widerstandes dagegen (siehe auch auf diesem Blog: Weiterer Film über Mieten und Gentrifizierung).

Kennen sich die Akteure der Stiftung und die des Filmkollektivs? Das weiss ich nicht. Bilden die Fragen nach der Architektur einer Stadt und die nach Verdrängung aufgrund von Armut einen Zusammenhang? Ja. Mit den Mitteln der Mathematik ließe sich dieser Zusammenhang mit dem Bild zweier Vektoren verdeutlichen, die von unterschiedlichen Ausgangspunkten in unterschiedliche Richtungen verlaufend doch auf ein gemeinsames Ziel im gemeinsamen Vektorraum zulaufen.

In der Zeitung der Hermann Henselmannstiftung 2014 schreibt Prof. Dr. Wolf R. Eisentraut in dem Artikel Wohin mit dem Wohnungsbau:

In den 2013 und 2014 veranstalteten Abendsalons der Hermann-Henselmann-Stiftung haben wir aber gerade herausgearbeitet, und das ist inzwischen Allgemeingut der Erkenntnis, dass der Wohnungsmangel eben nicht in dem Hochpreissegment für Besserverdienende oder Vermögende besteht. Vielmehr trifft er die zahlenmäßig überwiegenden sozialen Gruppierungen, denen nur ein begrenztes Budget für Ausgaben zum Leben und Wohnen zur Verfügung steht. Das sind nicht nur Leistungsempfänger unterschiedlicher Art, sondern vor dem Hintergrund zunehmend steigender Lebenshaltungs- und Energiekosten Familien mit normalen Einkommen.

Als Konsequenz für den städtischen Wohnungsbau beschreibt er weiter:

Heterogene Familien-, Arbeits- und Lebensstrukturen fordern […] Bewohnertypen […], die sehr unterschiedliche Anforderungen an die Wohnung stellen: Einpersonenhaushalte, Wohngemeinschaften, Heimarbeitende, aber auch die zahlenmäßig rasant zunehmende Zahl älterer und Pflegebedürftiger oder auch behinderte Menschen. […] Deshalb verhelfen teure Wohnungen nicht zur Lösung, sondern ein differenziertes Angebot einfacher Wohnungen guter Qualität für unterschiedliche Lebensweisen zu begrenzten Baukosten und folglich tragbare Mieten wird gebraucht.

Als Wege zur Lösung bezieht er ältere Konzepte der alten BRD für ein kostengünstiges Bauen ebenso ein wie

das Wohnungsbauprogramm der vergangenen DDR […], weil damals als belastend empfundene restriktive Regeln über Quantität und Aufwand letztlich zu einem spürbaren Zuwachs der Wohnungsanzahl geführt haben. Das Wettbewerbsverfahren zum kostengünstigen, bedarfsgerechten und qualitätsvollem Bauen steht also in Berlin noch aus.

Die Richtigkeit der Forderung eines sozialen Wohnungsbauprogramms für die Berliner Innenstadt als Ergebnis einer stadtarchitektonischen Draufsicht spiegelt sich in der bebilderten und vertonten Innensicht, die der Film gibt, wieder: Eine der Protagonist*innen in dem Film datiert die erste Verdrängungswelle entlang von Kapitalvermögen und Privateigentum im ehemaligen DDR-Wohnquartier auf Anfang der 1990er Jahre. Die Ein- und Unterordnung des DDR-Wohnungsmarktes in das BRD-Modell hatte unter anderem enorme Mietsteigerungen zur Folge, die sich ein Großteil der damaligen Bewohner*innen nicht leisten konnten. Die zweite Welle setzte vor ein paar Jahren ein, als die Brachen des Bezirkes als kapitalträchtige Anlagen für Häuslebauer*innen zum Ausverkauf frei gegeben wurden. Das Wohnquartier wird homogener, reicher, jünger – wer hat, der kann und bleibt oder, was meistens der Fall ist, kommt dazu und ersetzt diejenigen, die nicht mehr konnten, weil sich nicht genug hatten. Durch den Zufluss an Kapital in das Quartier werden günstige Wohnungen knapp. Wohnungsgesellschaften springen auf den Zug auf, ziehen die Mietschraube zu ihren Gunsten weiter an und der Mietspiegel als Maßstab für unverhältnismäßige Mietsteigerungen verkehrt sich in sein Gegenteil, indem er zur Rechtfertigung weiterer Mietsteigerungen dort wird, wo der*die Eigentümer*in mit seinen Preiserhöhungen noch nicht mitgezogen ist. 35 Euro mehr Miete pro Monat ist für viele Menschen nicht bezahlbar. Sie müssen Wohnraum woanders in der Stadt finden und/oder noch weiter verarmen.

Das mathematische Bild der zwei beschriebenen Auseinandersetzungs- bzw. Kampfvektoren im stadtpolitischen Raum würde sich nach meiner Wunschrechnung am Fernsehturm treffen. Spätestens jetzt wird deutlich: Ich bin keine Mathematikerin. Einen Reim machen kann ich mir trotzdem auf all das: Privates Kapitalvermögen in Wohnen angelegt führt zu Verdrängung von ärmeren Bevölkerungsteilen. Ebenso wie eine rein betriebswirtschaftlich gesteuerte und auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Stadtplanung im Unternehmen Stadt darauf zielt, öffentliche soziale Räume, wie den um den Fernsehturm, den Alexanderplatz, zu vernichten und die soziale wie auch konsumverweigernde Seite des Menschen aus diesen Räumen zu verdrängen – spätestens sobald sie aufgrund von dem als Norm gesetztem Verhalten und/oder Aussehen abweichen und/oder das Unternehmen sogar real stören.

Eisentraut schreibt in der gleichen Zeitung Vom Alexanderplatz zur Spree – eine Stadtspaziergang:

Der Flaneur blickt verunsichert in die Zukunft, weil diese nicht ein sinnvolles und bestandsrespektierendes Weiterbauen […] verspricht, sondern […] eine radikale Überformung und Maßstabsverschiebung androht. Ein Konvolut von Hochhäusern soll den Platz besetzen. Amerikanische Hochhausmotive in der Kombination massiver mehrgeschossiger Sockel und vielgeschossiger Türme waren die gewählten Zeichen der unbegrenzten Wachstumsgläubigkeit nach der deutschen Vereinigung. Obwohl inzwischen aus wirtschaftlichen Gründen eine Mäßigung in den Bebauungsmöglichkeiten eingetreten ist und sogar der partielle Bestand einiger Leitbauten aus der Aufbauzeit konsensuell diskutiert wird, ist dieser Plan, dem es offensichtlich am Einfügen in die Gesamtstadt mangelt, nicht mehr aufzuhalten. Zwei Hochhaustürme gehen nahezu still und heimlich nach geltendem Baurecht auf ihre Verwirklichung zu: Einer neben dem klobigen Saturngebäude und ein anderer neben dem Alexa, gleichsam auf der kleinen Wiese neben dem Eingang. Die Höhe von ca. 150 m wird das Hotel und das Haus des Lehrers wie Zwerge erscheinen lassen. Schmale Gassen werden verbleiben, unwirtlich und ohne Aufenthaltsqualität aufgrund ihrer Proportionierung, auch wegen der von den Hochhäusern verursachten Fallwinde an ihrem Fuße. Bereits diese zwei werden irreparablen städtebaulichen Schaden anrichten. Um das zu erkennen, muss man einen größeren Blickwinkel finden. Folgt man nämlich dem sich schaudernd abwendenden Spaziergänger in größeren Schritten durch die Stadt, kommt der benachbarte Fernsehturm massiv ins Spiel. Dessen einmaliger Standort ist weder zufällig gewählt noch von Ulbrichts Hand bestimmt. Es war etwas völlig Neues, einen solchen Turm in die Mitte der Stadt zu bauen. […] Ein ausgeklügeltes stadtplanerisches Vorgehen suchte gleichsam den Schnittpunkt der Berliner Haupteinfallstraßen einerseits und gab am Fuße des Turmes den angemessenen Freiraum für seine Wirkung im unmittelbaren Umfeld – dies alles in immer wieder überzeugender Wirkung für den Spaziergänger. […] Nur noch geringe Spuren der attraktiven Freiflächengestaltung, die einst von den Wasserkaskaden vor dem Fernsehturm über den Bereich des Neptunbrunnens bis zur Spree in kluger Gestaltung Beziehung im erfahrbaren Zusammenhang stand und die Marienkirche und das Rote Rathaus einbezogen hat. Keine Spur von dem lebendigen Treiben in diesem Stadtraum, in welchem die Menschen promenierten und verweilten.

Ähnlich wie in Arbeitskämpfen könnte und sollte auch mit der Stadt umgegangen werden, sobald sie uns als Unternehmen gegenübertritt. Die einen möchten die bessere Beleuchtung am Arbeitsplatz, die nächsten wenigstens genügend Geld zum Leben, die dritten die Aneignung und den kollektiven Besitz der Produktionsmittel. Die einen möchten einen Balkon mit Blick auf den Fernsehtrum, die nächsten nach Abzug der Miete noch Geld für einen Urlaub alle paar Jahre, die dritten den Wohnraum aus der Warenwelt zurück erstreiten und selbstbestimmt sozial gestalten.

Die Annäherung an diesen sozialen Kampf kann aus der städtebaulichen Draufsicht ebenso erfolgen wie mit dem Blick aus dem Küchenfenster und der Innensicht durch und mit den Nachbar*innen. Aus dem je eigenen Klassenstandpunkt ergeben sich die Positionen und Ziele im Kampf um Eigentumsbildung, kapitalistische Verwertung von Wohn- und Lebensraum und soziale Stadtplanung. Hier liegt ihre Strukturgleichheit mit ähnlich heterogenen Arbeitskämpfen im Rahmen stark ausdifferenzierter Produktionsverhältnisse. Die analytisch vielleicht einleuchtende, politisch jedoch irreführende Trennung in Reproduktion und Produktion dividiert sie auseinander. Sie könnten sich stattdessen in gemeinsamen städtischen Kämpfen verbinden und gegen die Ausbeutung und Zerstörung des Sozialen in der Arbeit und in der Stadt verbünden.

 

Hinterlasse eine Antwort