Plädoyer für eine öffentliche Produktion1
»BMW will mit E-Autos langfristig Geld verdienen«, »Chevron profitiert von Raffinerien«, »Continental hebt Gewinnprognose an«, »Airbus will die 1000 knacken«, »Samsung sucht sein Heil in neuen Smartphones« – die Schlagzeilen im Wirtschaftsteil von Tageszeitungen sprechen die wohl deutlichste Sprache des Privateigentums. Auch wenn es auf den ersten Blick gar nicht so aussieht. Eigentum, hier synonym mit Privateigentum, ist ein Begriff, zu dem viele Menschen vieles und zwar viel Verschiedenes denken. Dem Alltagsverstand ist Eigentum schlicht das, was einem gehört. Mein Auto. Mein Haus. Mein iPhone. Wobei »mein« zugleich heißt »nicht dein«. Also Ausschluss. Etwas elaborierter formuliert es das bürgerliche Gesetzbuch, Artikel 903: »Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen«. Das hat etwas Beruhigendes. Meine Zahnbürste teile ich ungern. Da ist es gut, wenn ich das Recht habe, anderen zu sagen, sie dürfen sie nicht nutzen. Das ist die Freiheit, übrigens, die Privateigentum meint: Mit »seiner« Sache nach Belieben verfahren zu können. Aber auch das bürgerliche Gesetzbuch, der sozialistischen Weltumwälzungen unverdächtig, kennt Einschränkungen dieser Freiheit: »… soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen …« Auch das ist beruhigend. Wenn mein Nachbar zufällig Eigentümer einer Chemiefabrik ist, ist es gut, dass ich ihn hindern kann, giftige Chemikalien direkt neben meinem Tomatenbeet zu lagern. Privateigentum, so gesehen, scheint eine vernünftige Angelegenheit. Wenn man diesen, zugegebenermaßen etwas schlichten Horizont der Betrachtung verlässt, rücken andere Dimensionen ins Bild. Man muss nicht Marx gelesen haben, um zu sehen, dass Privateigentum ein soziales Verhältnis ist, das Menschen die Macht gibt, andere vom Zugang zu elementaren Lebensbedingungen auszuschließen. Seien es gesunde Nahrungsmittel, Behausung, Mobilität oder eine intakte Umwelt. Wenn es doch nur die Zahnbürste wäre! Recht hilfreich ist es dann aber doch, Marx zu lesen, wenn man noch genauer hingucken möchte. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung von Privateigentum stehen die Güter, wie Maschinen, Werkzeuge, Rohstoffe – in der Sprache der Politischen Ökonomie: Produktionsmittel. Dabei ist es noch nicht mal das Schlimmste, dass das Eigentum an Produktionsmitteln recht überschaubar verteilt ist. Die allermeisten Menschen sind davon ausgeschlossen, selbst wenn sie über Aktienbesitz oder undurchsichtig komplexe Rentenfondseinzahlungen formal-rechtlich Teileigentümer sind. Das heißt noch lange nicht, dass sie darüber bestimmen dürften. Vor allem aber heißt es nicht, dass die damit produzierten Waren allen gleichermaßen zugänglich sind. Es hängt von der Zahlungsfähigkeit ab, was konsumiert werden kann und was nicht. Kein Geld, kein Brot. Das Herzstück der sozialen Beziehung von Eigentümern und Nicht-Eigentümern ist schließlich, dass die einen für die anderen arbeiten (müssen). Der eine hat die Maschine, das Fabrikgelände, die Rohstoffe, der andere hat in aller Regel nichts dergleichen, außer dem Vermögen, zu arbeiten. Er oder sie stellen sich in den Dienst und bleiben das solange, wie sie rentabel sind – mit anderen Worten: solange er das Eigentum des Eigentümers vermehren kann. Stockt dieser Prozess – und das liegt außerhalb des Einflussbereichs dessen, der arbeiten muss – wird er »freigesetzt«. Im Herzstück wird somit deutlich, warum es bei Eigentum geht: kein statisches Etwas, kein Ding, wie mein Haus oder mein Auto, nicht einfach ein soziales Verhältnis wonach ich jemanden vom Gebrauch meiner Zahnbürste ausschließen kann, all das auch, aber all das nicht alleine. Weit darüber hinaus geht es um die Art und Weise, wie Menschen arbeitsteilig organisiert sind und zu welchem Zweck sie in dieser Art und Weise Güter für ihren Gebrauch herstellen. Privateigentum umschreibt insofern eine bestimmte, eine einige Jahrhunderte alte, also welthistorisch noch relativ junge Gesellschaftsforin, auch wenn es schwer fällt, das so zu denken. Das Eigentum an Produktionsmitteln wird in dieser modernen Gesellschaftsform genutzt, um mit der Produktion von Gütern – sagen wir Autos, es können aber auch Ölförderung, Handys oder Schuhe sein – mehr Kapital zu generieren, als vorher dafür investiert wurde. Ist das gelungen, geht es wieder von vorne los. Und dann wieder. Und dann wieder und wieder und wieder. Diese Bewegung ist maßlos. Sie findet kein Ende (außer im Bankrott), kann sie auch nicht, weil an der nächsten Ecke, in der nächsten Stadt oder auf der anderen Seite des Erdballs jemand ist, der das gleiche versucht, also auch mittels Autos, Schuhen oder Handys Kapital vermehren will, entweder sich dann ebenso auf diesem »Markt bewegt«, oder aber »einen Markt erschließt«, »auf einen Markt drängt« oder »einen Marktanteil will«.2 Die Geschichte des Eigentums ist schnell zu Ende erzählt: Da nun die Nachfrage nach all den produzierten Waren nicht maßlos sein kann, weil ja das Bedürfnis nur begrenzt zahlungsfähig ist (der Lohn kennt ja ein Maß), kann auch das Angebot nur begrenzt sein – die Produktionsmitteleigentümer müssen in der Konkurrenz die begrenzte Nachfrage auf sich ziehen, indem sie billiger, besser, schneller – was auch immer – als die anderen werden. So wie das pochende Herz das Blut durch den Körper zirkuliert, so zirkuliert die Konkurrenz zwischen den Eigentümern an Produktionsmitteln deren Waren um den Globus: Immer neue, immer andere Waren, immer mehr, höher, schneller, weiter, größer. Zugleich wächst die Branche, die immer neue Bedürfnisse kreiert: die Werbeindustrie. Das ist der Wachstumszwang, den viele angesichts der seit einigen Jahrzehnten zunehmenden Umweltzerstörung kritisieren, ohne die Kraft zu benennen, die all dies antreibt. Und dem vorausgesetzt ist Privateigentum, das viele angesichts der Ungleichverteilung von Reichtum kritisieren, ohne die Logik, die an diesem spezifischen Eigentum haftet, zu benennen.
Zurück zum Wirtschaftsteil der Tageszeitung, um eine charakteristische Dimension dieses so verstandenen Privateigentums sichtbar zu machen. »Große deutsche Geldmaschinen« titelte neulich die Berliner Zeitung und listete verschiedene Konzerne und ihre Perspektiven auf. Da konnte VW seinen »operativen Gewinn« steigern. Der Pharma- und Chemiekonzern Bayer »profitierte« von einem »florierenden Agrarchemiegeschäft«, die weltweit »boomende« LKW-Nachfrage ließ »bei MAN die Kassen klingeln«, der Halbleiterkonzern Infineon wolle dem einsetzenden »Abwärtssog an den globalen Chipmärkten« widerstehen und zu Siemens hieß es, Sonderlasten in Milliardenhöhen hätten dem Konzern im vergangenen Quartal »schwer zugesetzt«, So lesen sich ermüdend ähnlich die Unternehmensnachrichten dieser Welt. Wie in der Sportberichterstattung geht es stets ums Gewinnen – und wie dort gibt es sie hier, die Gewinner, aber auch die Verlierer. Nur dass die Akkumulation keine Halbzeitpause kennt, keine Spielunterbrechung, keine Ruhezeiten und keine Sommerpause.
Dass da ganz nebenbei noch etwas produziert wird – das hätte man fast vergessen. Autos, Schuhe, Tische, Lampen, Fahrräder und vieles mehr werden in dieser Welt hergestellt, um ein Geschäft damit zu machen. Sie sind das Mittel zum Zweck (immerhin das sind sie). Funktionsträger des Privateigentums – ob Manager oder Firmenchef – vollziehen diese Logik, aus Kapital mehr Kapital zu machen. G‘ (»G-Strich«) nannte Marx jenes Kapital, das nach dem Verwertungs- und Produktionsprozess größer ist als vorher. G-Strich ist das Kriterium, an dem Unternehmen ihren Erfolg messen lassen müssen, an dem sie sehen, ob ihr Privateigentum an Produktionsmitteln seinem Zweck diente oder nicht. Tat es das nicht, stürzen die Aktienkurse, werden Menschen entlassen, die Löhne gekürzt, der Standort verlagert. Die darin Befangenen sind ohnmächtig, ihnen stellt sich diese Dynamik als eine ganz eigene, von ihnen nicht kontrollierbare dar. Als wäre »die Wirtschaft« ein lebender Organismus, der ganz ohne unser Zutun existiert. Die Sprache ist ein offenkundiger Marker für diesen Befund: »Das Wachstum erholt sich nur langsam«, »Die Wirtschaft krankt« oder »Die Wirtschaft gesundet« sind die Schlagzeilen, die die Eigendynamik andeuten. Wie die Temperaturkurve (die bezeichnenderweise unmittelbar vor den Börsennachrichten kommt), steigen oder fallen die Daten der Ökonomie. Wenn eine Konjunktur sich »erhitzt«, anschließend »dunkle Wolken am Horizont« auftauchen und sich das »Konsumklima abkühlt«, dann wird in diesen Metaphern das Werk der Menschen zu etwas Unabwendbarem wie das Wetter, auf das der Mensch keinen Einfluss hat (Klimawandel ausgenommen). Noch deutlicher aber wird dieser Komrollverlust bei alltäglichen Formulierungen wie „die Preise steigen«, »die Arbeirslosenzahl sinkt«, »die Kurse fallen«. Immerzu fällt, sinkt, steigt »etwas« in dieser Wirtschaft – das ist die Bewegung des Privateigentums.
Die linke Kritik am Privateigentum benennt weniger die Bewegung des Privateigentums und die dieser Bewegung zugrunde liegende Logik, sondern kritisiert oft nur das, was Resultat dieser Bewegung ist: die ungleiche Verteilung des produzierten Reichtums. Es sei ungerecht, unrichtig und unmoralisch, dass die einen nichts, die anderen wenig, die wenigen anderen aber viel haben. Darüber hinaus wird in den letzten Jahrzehnten zunehmend insbesondere aufgrund des Klimawandels die Umweltzerstärung thematisiert – auch sie ist ein Produkt des Privateigentums, wenn beispielsweise private Kapitaleigner in ihrer Rationalität G‘ befangen produzieren, ohne die ökologischen Folgen ihres Tuns zu berücksichtigen (zu teuer, zu egal). Die alte Eigentumsfrage stellt sich in immer neuen Verkleidungen (vgl. Rilling 2007, 20083, 20114). In der Linken werden konjunkturell mal mehr, mal weniger intensiv verschiedene Möglichkeiten des Eingriffs in dieses Dilemma diskutiert: Wirtschaftsdemokratie, Belegschaftseigentum, die von der Computervernetzung hochgespülte Praxis des »Open Source«, die von der Umweltökonomie entdeckten »Commons« oder aber auch »das Öffentliche« – in Entgegensetzung zum Privaten.5 Nicht zuletzt, weil die private Logik, wonach Rentabilität der Maßstab auch für die noch am schlechtesten zu messende Arbeit (Pflege) ist, wenig attraktive Gegenspieler hat. Nun auf der Suche nach einem Gegenpart beim Begriff und Konzept des „Öffentlichen« zu landen (»Plädoyer für das Öffentliche«, Rilling 20096), hat insofern einiges für sich. »Commons« und »Open Source« sind nur einer ganz spezifischen Zielgruppe zugänglich. »Wirtschaftsdemokratie« und »Belegschaftseigentum« letztlich ebenso, wenn auch möglicherweise breiter angelegt. Das »Öffentliche« hingegen ist allen vertraut, es begegnet uns auf der öffentlichen Toilette, in der öffentlichen Telefonzelle, im öffentlichen Raum, bei den öffentlichen Dienstleistungen und vielem anderen mehr. Natürlich löst sich »das Öffentliche« in vielen Fällen als sprachliches Relikt aus einer anderen Zeit oder als schlicht räumlich gemeinte Zuordnung auf, wenn man näher hinguckt: Die öffentliche Toilette beispielsweise wird in aller Regel privat betrieben. Sie ist aber im Gegensatz zu meiner Toilette zu Hause öffentlich zugänglich. Die öffentliche Telefonzelle gibt es kaum noch, und auch ein öffentliches Unternehmen kann nach privatwirtschaftlichen Kriterien arbeiten. Der Begriff »das Öffentliche« hat aber einen Bedeutungshof, und darum geht es, der alle Attribute vereinen kann, die der privaten Verwertungslogik den Garaus machen könnten: Transparenz, Mitsprache, Zugänglichkeit, Kooperation, Absprache, Demokratie, Aushandlung, gutmeinend doch auch irgendwie: Alles für alle. Auch wenn nun Rainer Rilling schreibt, dass die Rede vom Öffentlichen keine Produktionsweise oder keine Wirtschaftsordnung meine (ebd.:. 186), so spricht doch nichts dagegen, das Plädoyer zu erweitern auf die Produktion. Wie würden sich die Schlagzeilen der Wirtschaftsressorts einer solchen Welt lesen? Vielleicht so: »Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs beschlossen. BMW kann Autoproduktion drosseln.« »Energieverbrauch zurückgegangen: Chevron muss weniger Öl fördern.« »Panzerproduktion bei Rheinmetall eingestellt – Belegschaft jubelt!« Oder: »Die Welt atmet auf: Wirtschaftswachstum bricht ein.« Das Öffentliche macht es möglich. Wir freuen uns schon auf folgenden Artikel:
Beschäftigungsstand auf niedrigstem Niveau seit 25 Jahren |
- Dieser Artikel erschien zuerst in der Aufsatzsammlung für Rainer Rilling zum 65. Geburtstag: Demirovic/Kaindl (Hg.): Gegen den Neoliberalismus andenken. Linke Wissenspolitik und sozialistische Perspektiven, Hamburg (VSA) 2012, 189-194. Dank für Unterstützung bei der Textproduktion an Blogonaut Markus Euskirchen und an den Wirtschaftsredakteur meines Vertrauens. [↩]
- Rainer Rilling (2001): Virale Eigentumsmuster; in: Ingrid Lohmann/Rainer Rilling (Hrsg.): Die verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft, Opladen, S. 303-313. [↩]
- In Die Eigentumsfrage kehrt zurück (RLS Reihe Standpunkte 1212007) und in Remix der Eigentumslandschaft (Vorgänge 2/2008, S. 100-112) diskutiert Rainer Rilling Eigentum und Macht in einer entlang der Privateigentumsverhältnisse gespaltenen Gesellschaft, der bürgerlichen Klassengesellschaft, anhand der Konflikte um Privatisierungsprojekte. [↩]
- Rainer Rilling (2011): Neues zur Eigentumsfrage? In: „Alle Verhältnisse umzuwerfen…“ Eine Streitschrift zum Programm der LINKEN, Köln (Papyrossa), S. 83-98. [↩]
- In Power und Property (RLS policy paper 3/2004) schlagen Dieter Klein und Rainer Rilling eine »new plurality of property forms« (5. 5) vor. [↩]
- Rainer Rilling (2009): Plädoyer für das Öffentliche; in: Mario Candeias/Rainer Rilling/Katharina Weise (Hrsg.): Krise der Privatisierung. Rückkehr des Öffentlichen, Berlin, S. 175-190. [↩]