Heribert Prantl schreibt in der FAZ (3.5.2011, S. 32) und dann auch noch unter dem Titel: „Ohne Umverteilung des Reichtums verkümmert die Demokratie“. War am ersten Mai vielleicht irgendwas, was ich versäumt habe??
Ausbeutung war gestern, Entlassung ist heute. So mancher Entlassene wäre lieber ausgebeutet. Der Kapitalismus funktioniert, so sagt es Oskar Negt, zum ersten Mal in seiner Geschichte so, wie es Karl Marx in seinem „Kapital“ beschrieben hat. Die Gesellschaft wird zum Anhängsel des Marktes. Weil die Ratio des sogenannten Neoliberalismus in der Verbetriebswirtschaft-lichung des Gemeinwesens besteht, wird das Soziale getilgt, der unternehmerische Erfolg allein an der Wertentwicklung der Aktien gemessen. Betriebswirtschaftliche Rationalität ist an die Stelle der Ratio, der Vernunft der Aufklärung, getreten. Man nennt das Rationalisierung. Sie ist die Rückbeförderung des arbeitenden Menschen in die Unmündigkeit. Dagegen hat sich Oskar Negt sein Leben lang gestemmt – und er tut das bis heute mit bewundernswerter politischer und wissenschaftlicher Energie. (…)
Oskar Negt war ein Vermittler zwischen dem Radikalismus der Achtundsechziger und den rationaleren Strategien der Gewerkschaften. Er musste nicht konvertieren wie Joschka Fischer, er musste nicht die Steine weglegen: er hatte sie nie in der Hand, und er hatte Gewalt nie im Kopf. Theatralität war seine Sache nie, er hat seine Positionen über Jahrzehnte hinweg unaufgeregt und geduldig vorgetragen. Negt musste nicht auf krummen Wegen in die Demokratie finden, sie war und ist seine Lebensform. Allerdings waren und sind seine Ansprüche an die Demokratie von anspruchsvoller Art. Demokratie ist für ihn mehr als eine Machttechnik; sie beruht auf der Selbstbestimmung autonomiefähiger Bürger. Politik im demokratischen Prozess ist für Negt „Sinnverwirklichung des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens“. Und im Zuge dieser Sinnverwirklichung plädiert er, zum Beispiel, für eine „bewusste Steuerung der Reichtumsverteilung“, für Umverteilung durch Besteuerung, um dem Gemeinwesen neue Mittel zuzuleiten – und damit neue Arbeitsplätze zu finanzieren. (…)
Zu Beginn der achtziger Jahre, als die Gewerkschaften für die 35-Stunden-Woche kämpften, diskutierte Negt darüber mit dem katholischen Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning. Dieser sagte ihm: „Junger Freund, sie kämpfen für 35 Stunden. Dabei wären zehn Stunden völlig ausreichend, wenn die Menschen vernünftig mit ihren Ressourcen umgingen.“ Zehn Stunden wären ausreichend: Das war schon die Vorstellung von August Bebel. In Bebels Utopia, geschildert in seinem berühmten Buch „Die Frau und der Sozialismus“, das schon zu seinen Lebzeiten 53 Auflagen erlebte, gehen, sobald alle Kapitalisten expropriiert sind, alle Arbeitsfähigen einer Arbeit nach – einer mäßigen, täglich zwei- bis dreistündigen, abwechslungsreichen, ergiebigen Arbeit. In der übrigen Zeit geht jeder, je nach Geschmack, Studien oder Künsten nach oder pflegt geselligen Umgang.
Die Bürger einer Demokratie brauchen Ausbildung und Auskommen, sie müssen frei sein von der Angst um die eigenen Lebensverhältnisse. Deshalb sind Reformen, die Langzeitarbeitslose auf eine Rutsche in die Armut setzen, undemokratisch. Nur eine vitale Gemeinschaft hat die Kraft, eine kopernikanische Wende in der Arbeitswelt einzuleiten, in der nicht mehr allein Kapital und Markt definieren, was als Arbeit zu verstehen ist.
Ach so, eine Preisrede für Oskar Negt, den alten Co-Maulwurf von unser aller Lieblingsmitternachtsprivatfernsehkulturfensterfüller A. Kluge. Preis: hat er verdient. Sonntagsrede in der FAZ: ist zwar nicht falsch – aber obs mehr bringt als Distinktionsgewinn für alte Sozialdemokraten?