Keine Illusionen, was Verstaatlichung angeht

Mal wieder gelesen: J. Agnolis Beitrag zur Staatstheorie („Der Staat des Kapitals“). Agnoli wartete mitte der 1960er Jahre mit einer fulminanten, bis heute ergiebigen Kritik der demokratischen Institutionen („Transformation der Demokratie“) auf. Dem ließ er etwa 10 Jahre später eine Kritik der Staatsauffassungen sowohl der Bürgerlichen als auch der Stamokapler folgen. Im „Staat des Kapitals“ lotete er auch die Möglichkeiten eines linken und (vermeintlich) radikalen Reformismus aus und lieferte einen selbst heute noch über weite Strecken überzeugenden Beitrag zur staatstheoretischen Debatte. Zwar finden aus heutiger Sicht der Weltmarkt und die globalen Finanzmärkte zu wenig Berücksichtigung in Agnolis Argumentation. Aber auf keinen Fall macht Agnoli sich (und seinen Leser_innen) Illusionen, was die emanzipatorischen Potentiale von Verstaatlichung angeht:

Das besagt sicherlich nichts über mögliche, taktisch-strategische Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit partieller Verstaatlichungsmaßnahmen, etwa im kommunalen Bereich. Aber die politische Illusion und die strategische Globalhoffnung müssen ausgeräumt werden, Verstaatlichung im Kapitalismus (wahrscheinlich „Verstaatlichung“ überhaupt) ändere fundamental die Produktionsweise und damit auch die Klassenlage der Arbeiter einerseits, den Waren- und Tauschwertcharakter der produzierten Güter andererseits. Statt dessen stellt sich eher eine bedenkliche Seite ein, die mit dem politisch-ideologischen, allgemeinen Charakter des Staats zusammenhängt und die zur Vortäuschung einer der Allgemeinheit verpflichteten Eigenschaft des Betriebs führen kann und die Möglichkeit einer einheitlichen Kampffront bei Lohn- und gesellschaftspolitischen Konflikten beschneidet. Eine solche Gefahr tritt dennoch nur bei einem niedrigen Stand der Klassenreife und der politischen Bewußtheit ein. Wer seine Arbeitskraft verkaufen muß, kommt schnell dahinter, dass der Kapitaleigner gesellschaftlich unsichtbar bleiben oder sich eine „öffentliche“ Vertretungsmaske anlegen kann. Hier stößt der bürgerliche Staat auf eine zweite, weitaus entscheidendere Schranke seiner Lenkungsmöglichkeiten. Die erste findet sich – wie bereits gesehen – in dem Widerspruch zwischen Akkumulationserfordernis und Planungskosten. Sie bedingt übrigens auch die strukturelle Unmöglichkeit und das Scheitern einer jeden „systemverändernden“ Reformpolitik, da die Mittel, die dafür aufgebracht werden müssen, in dem Grad zunehmen, in dem sich die Klassenabsage verschärft und also entlang der neuen Krisenachse die Mehrwertproduktion sich reduziert. Das heißt aber, daß der planende Staat immer komplexere und teurere Auffangmechanismen und technisch- manipulative Subsysteme schaffen muß, je geringer und langfristig unkontrollierbarer, nicht planbarer die zur Verfügung stehenden Fonds sind. Ein lehrreiches geschichtliches Beispiel bietet Giolittis Reformversuch im vorfaschistischen Italien: Die hohen Integrationskosten (politische Warenpreise und politische Lohne) zwangen ökonomisch das norditalienische Kapital zu einem politischen Kurswechsel. Es sei daran erinnert, daß sich in solchen Kosten etwas Konkreteres verbirgt als die bloße Sozialausgabe im staatlichen Etat. In ihnen schlägt sich für das Kapital die Verbindung von Akkumulationsstand und Klassenreife „geschäftlich“ (in der Form der Abzweigung von Geldern aus der reinvestierbaren Wertmasse) nieder.

Jenseits der Ökonomie aber zerbricht die präventive Politik erst an der Schranke des Klassenwiderstands gegen jede Form der Institutionalisierung des Klassenkonflikts und dessen staatlicher Repräsentationsform und gegen die rechtliche Ritualisierung des gesellschaftlichen Antagonismus wie sie im transformierten Verfassungsstaat der kapitalistischen Gegenwart inzwischen zur allgemeinen, irreversiblen Tendenz geworden ist. Auch hier stellt sich ein Reaktionszusammenhang ein. Je konkreter die Artikulationsmöglichkeit der Massenbedürfnisse und der gesellschaftlichen Negation ist, um so dringender versucht die Bourgeoisie, ihren Staat zu reformieren in Richtung auf eine transformierte „Demokratie“. Daraus ergibt sich aber, daß die von vielen emanzipatorisch gerichteten Kräften und Gruppen erhoffte, zuweilen schlicht erträumte Verfügbarkeit des bürgerlichen Staats für die Überwindung von Ausbeutung und Herrschaft und die mit dieser Hoffnung verbundene Strategie (die doppelte wie die einfache) in eine theoretische Dimension gerückt wird, die sowohl ihre Substanzlosigkeit zeigt wie auch neue Wege der revolutionären Praxis erkennen läßt.

Wenn dies verstanden wird, kann die Ebene der bloß moralisch-agitatorischen Argumentation verlassen werden, die auf die Gültigkeit von Normen, Ideen und Traditionen (auch des Kampfes) pocht. Es wird dann möglich, Prozesse der radikalen Veränderung und der Befreiung nicht mehr als Folge der Tätigkeit freier, offener oder geheimer, dezisionistisch gerichteter Gruppen aufzufassen und also zu meinen: es genüge, alte, konservative oder reaktionäre politische Führungsgruppen abzulösen, um die richtige Richtung sich dann abwickeln zu lassen.

Gegen solche naive Politik funktionieren die Machtmechanismen des bürgerlichen Staats seit jeher mit erstaunlicher Präzision, bezeichnenderweise auch wenn sie in oberflächliche, zeitweilige Formschwierigkeiten geraten. Nur wenn sich der Logik der institutionellen Strategie die Logik des Klassenkampfs entgegenstellt und diese die ihren emanzipatorischen Inhalt genau verwirklichende organisatorische Form gefunden hat, halten das Kapital und sein Staat die neue Wirklichkeit nicht mehr aus.

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