Helen Clark, Premierministerin von Neuseeland, im Interview mit der NZZ:
«Wir brauchen einen starken Staat»
http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/showarticle/519837ca-e9c2-4c20-918c-31ac11ad8045.aspx
kurzer Ausschnitt zum Thema Privatisierung und ihre Folgen:
Frage: Neuseeland hat damals im großen Stil Staatseigentum verkauft. Das war also keine gute Idee?
Helen Clark: Das waren oft Desaster! Zum Beispiel die Privatisierung der Eisenbahn und auch der Fluggesellschaft. Wir mussten beide in den letzten fünf Jahren zurückkaufen, sonst hätte Neuseeland weder das eine noch das andere. In der Telekommunikation wurde aus dem Staatsmonopol ein Privatmonopol, das Mitbewerbern den Zugang verwehren konnte.
(gefunden bei http://www.nachdenkseiten.de/?p=1983 )
Das vollstaendige Interview der NZZ:
Privatisierung – NZZ Folio 09/06
«Wir brauchen einen starken Staat»
Seit die Sozialdemokratin Helen Clark Neuseeland regiert, hat sie die Privatisierung behutsam zurückgedreht. Und das Land kann erstaunlich gute Wirtschaftsdaten vorweisen. Trotzdem oder deswegen? Von Anja Jardine
Frau Premierministerin, Neuseelands Wirtschaft floriert, es gibt kaum Arbeitslose. Verdanken Sie das den «Rogernomics» – den radikalen Wirtschaftsreformen der 1980er Jahre, benannt nach dem damaligen Finanzminister Roger Douglas?
Das glaube ich nicht. Die Deregulierung erfolgte vor zwanzig Jahren, danach sind wir jahrelang furchtbar gestrauchelt. Und ich bin überzeugt, dass die Rogernomics deshalb nicht funktioniert haben, weil es für den Staat keine angemessene Rolle gab, denn es bedarf in der Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts unbedingt einer Führungsrolle des Staates. Seit ich im Amt bin, versuche ich, die für Neuseeland herauszuarbeiten.
Worin besteht die Rolle?
Wir sind ein kleines Land, wir müssen als «Neuseeland Incorporated» arbeiten, wir müssen unsere Politik eng auf unsere Wirtschaft ausrichten – ihre Potentiale identifizieren, gezielt forschen und entwickeln, sicherstellen, dass genug Risikokapital zur Verfügung steht. Die Privatwirtschaft reisst sich nicht drum, Ideen zu finanzieren, die sich noch nicht bewiesen haben. Sowenig wie sie freiwillig Grundversorgung gewährleistet oder in Infrastruktur investiert. Das hat uns die Erfahrung gelehrt.
Neuseeland hat damals im grossen Stil Staatseigentum verkauft. Das war also keine gute Idee?
Das waren oft Desaster! Zum Beispiel die Privatisierung der Eisenbahn und auch der Fluggesellschaft. Wir mussten beide in den letzten fünf Jahren zurückkaufen, sonst hätte Neuseeland weder das eine noch das andere. In der Telekommunikation wurde aus dem Staatsmonopol ein Privatmonopol, das Mitbewerbern den Zugang verwehren konnte. Es mangelt in diesem Bereich noch heute an Wettbewerb und Angebot. Wir haben grosse Mühe, das zu korrigieren. Zum Beispiel versuchen wir gerade, im Bereich der Breitbandtechnologien das Gefüge aufzubrechen.
Warum gab es beim Verkauf keine Auflagen, die Grundversorgung und Wettbewerb sicherstellten?
Wir waren mit die ersten weltweit, die deregulierten. Das Pendel schwang von einer Art westlichem Albanien, das wir waren, zu einem Zustand ohne jede Regeln. Die privaten Energiekonzerne zum Beispiel haben über Jahre hinweg nur den Profit abgezogen und weder in Instandhaltung noch Erneuerung des Netzes investiert.
Was unter anderem dazu führte, dass 1998 für 66 Tage weite Teile Aucklands ohne Strom waren.
Ja. Ähnlich erfolglos war der Verkauf der Banken: der Postbank und auch der Bank of New Zealand. Es gibt heute keine neuseeländische Bank von Rang mehr, die meisten sind in australischer Hand. Und weil diese Grossbanken kein Interesse am kleinen Mann haben, konnte man in manchen Städten jahrelang kein Konto mehr eröffnen. Die Regierung musste auch da einspringen und hat in den Postfilialen eine Bank eingerichtet.
Hätte Neuseeland 1984 die Möglichkeit gehabt, die Reformen behutsamer durchzuführen?
Fest steht: Wir konnten nicht weitermachen wie bisher. Aber es hätte besser geplant sein müssen, von entsprechenden Massnahmen begleitet. So gibt es in Neuseeland zum Beispiel Potential für Nischenproduktion, doch dazu bedarf es hochqualifizierter Arbeiter und Innovation. Das hätte man parallel initiieren müssen. Vor allem hätten die Menschen wissen müssen, was auf sie zukommt. Die haben die Reformen nie gewählt. Auf diese Weise verliert man die demokratische Legitimation. Wir mussten das Wahlrecht ändern – vom britischen Modell zum deutschen Verhältniswahlrecht, das kleinen Parteien den Zugang erleichtert. Die Menschen haben uns nicht mehr vertraut.
Wie waren Sie persönlich in die Reformen involviert?
Ich war im Parlament, und ich war zweifelsfrei nicht einverstanden mit dem, was da geschah. Und als ich 1987 dann Ministerin für Wohnungsbau und Gesundheit wurde, musste ich mich mit den sozialen Konsequenzen der Reformen auseinandersetzen, und die waren enorm. Wenn man ein System mit freier Ausbildung und freiem Gesundheitswesen abschafft, bewegt man sich als Nation rückwärts.
Aber es gab keine nennenswerte Opposition. Die National-Partei machte weiter, wo Labour aufgehört hatte.
Moment, die Labour-Regierung hat in der ersten Reformrunde die Wirtschafts- und Finanzmärkte dereguliert, aber wir haben weder das soziale Netz gekappt noch den Arbeitsmarkt angefasst. Das hat die National Party getan, als sie 1990 an die Macht kam. Die haben Renten und Sozialleistungen gekürzt, Gebühren für Krankenhäuser und Universitäten eingeführt sowie die Gewerkschaften entmachtet. Es kam zu Massenentlassungen. Da ging es erst richtig abwärts.
Aber es war die Labour-Partei, die den Bauern über Nacht die Subventionen gestrichen hat.
Das war richtig. Wir mussten die Subventionen los werden – dauerhafte Bezuschussung der Produktion ist grundsätzlich falsch –, aber es geschah zu schnell, zu hart, zu radikal. Viele Farmer sahen ihr Lebenswerk zerstört. Mein Vater, ebenfalls Bauer, nahm Antidepressiva.
Wer die Krise durchgestanden hat, scheint heute sehr robust zu sein. Ist das so?
Ja, Sie finden keinen einzigen Bauern im Land, der zu den alten Zuständen zurückwill. Unsere Farmen sind hochproduktiv, und der abgelegenste Hochlandbauer hat ein ausgeprägtes unternehmerisches Bewusstsein. Aber es geht nicht nur um Milch, Fleisch, Wolle und Holz, sondern zum Beispiel auch um Biotechnologie. Wir haben vor Jahren eine Taskforce mit Leuten aus Industrie und Regierung eingerichtet, um auf diesem Feld eine klare Strategie zu entwickeln. Die Herausforderung besteht für uns darin, Mehrwert zu schaffen: Functional Food, Nahrungsergänzungsstoffe. Das müssen wir fördern, fördern, fördern.
Weit über 90 Prozent der rund 13 000 Milchbauern haben sich zu einer Grosskooperative zusammengeschlossen: Fonterra. Das sieht nach Sozialismus aus.
Wenn neuseeländische Milchproduzenten anfangen, sich gegenseitig zu unterbieten, haben sie auf dem Weltmarkt keine Chance; wir müssen nach aussen hin gemeinsam auftreten; unsere mittelgrossen Molkereien wären andernfalls längt von Nestlé oder sonstwem geschluckt worden. Deswegen haben wir dem Zusammenschluss eine Sondererlaubnis erteilt. Die Mitgliedschaft ist für die Bauern freiwillig, es gibt drei weitere kleinere Milchkooperativen, so dass im Inland durchaus Wettbewerb herrscht. Kooperativen spielten in Neuseeland schon immer eine grosse Rolle. Auch Obstbauern tun sich für Marketing und Vertrieb zusammen – die Kiwis unter Zespri, die Äpfel unter Enza.
Es ist also legitim, wenn ein Staat seine Industrien vor den rauhen Winden der Weltwirtschaft zu schützen versucht? Tut Europa mit seinen Subventionen für die Landwirtschaft nicht genau das?
Der Unterschied ist der, dass wir die Landwirtschaft als Industrie betrachten, während sie in Europa eher als Naturpflege gesehen wird. In Anbetracht der Grössenordnung der Landwirtschaft in Europa ist das absurd. Länder wie die Schweiz sollten unterscheiden zwischen der Unterstützung ländlichen Lebens einerseits und der Landwirtschaft als Industrie andererseits, denn so wie es nun läuft, profitieren grosse Agrarbetriebe am meisten von den Subventionen. Und das ist unfair gegen alle anderen.
Wie steht es mit dem Recht eines Staates auf Selbstversorgung?
Das ist altes Denken – allerdings auch in der Psyche der Briten tief verankert. Aber wir müssen den Mechanismen im neuen Europa vertrauen.
Subventionen gehören also gestrichen. Welche weiteren Lehren haben Sie aus den Rogernomics gezogen?
Nicht Privatisierung ist das zentrale Thema, vielmehr geht es darum, Staatsunternehmen so zu organisieren, dass sie nicht nach politischen Kriterien geführt werden, sondern nach unternehmerischen. Neuseeland hat nie Fabriken nach sowjetischem Muster besessen, sondern bei uns ging es um Infrastruktur. Die Eisenbahn gehört zur Grundausstattung, sie ist ein natürliches Monopol. Auch die Airline hätte nicht privatisiert werden sollen, es ist schwer, mit einer Fluggesellschaft Geld zu verdienen. Aber wir vermarkten Neuseeland durch Air New Zealand, deswegen brauchen wir eine Fluggesellschaft, um im Tourismus Geld zu verdienen.
Welche Rolle spielt die nationale Identität in einer globalisierten Wirtschaft?
Wenn wir als Regierung die Kultur nicht fördern, enden wir als Vorstadt von Los Angeles, Sydney oder Frankfurt. Aber wir haben unsere eigenen Geschichten zu erzählen. Europäischer Lebensstil in Neuseeland ist anders als in Europa, Maori gibt es nur hier.
Offensichtlich bedarf es immer wieder der Ermutigung, des Appells an dieses Nationalbewusstsein?
Jemand muss dafür Sorge tragen, dafür Raum schaffen, und dabei geht es letztlich auch um Geld. Warum werden in Neuseeland in letzter Zeit so viele interessante Filme gedreht? Weil wir dafür bezahlen! Wir haben einen Fonds eingerichtet, der Drehbuchautoren und Filmemacher anlockt. Das Gleiche gilt für Musik. Wir stellen sicher, dass neuseeländische Kultur präsent ist. Wenn wir unsere eigene Kultur in Mode, Musik und Kunst zum Ausdruck bringen, gibt das den Menschen Sicherheit.
Fördern Sie die Kultur auch aus ökonomischen Gründen?
Ganz gewiss, denn ikonische Industrien wie Film haben einen Multiplikatoreffekt, der das Image eines Landes prägt, wovon wiederum Tourismus und Handel profitieren. Wir versuchen hier eine ganzheitliche Marke aufzubauen.
Nach den Reformen stand es schlecht um das gesellschaftliche Wohlbefinden. Das soziale Klima war rauh.
Das stimmt, es gab eine latente Aggression, und solche Spannungen in der Gesellschaft darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Schauen Sie nur, was in Frankreich passiert: zehn Prozent Arbeitslosigkeit, konzentriert in Ghettos, da brennen die Städte. Und wenn Sie sich die Geschichte Deutschlands vor Augen führen, so war es in Zeiten von Armut und Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik, als Hitlers Stunde kam. Ein soziales Gefüge sollte sehr behutsam restrukturiert werden. So gesehen hatten wir in Neuseeland damals erstaunlich wenig Krawall.
Aber eine sehr hohe Jugendselbstmordrate.
Ich bin überzeugt, dass das mit der hohen Jugendarbeitslosigkeit zu tun hatte. Junge sahen keine Zukunft. Seit sie wieder Hoffnung haben, ist die Rate zurückgegangen.
Ihre Politik stand von Anfang an unter dem Slogan «Closing the Gap» (Schliessen der Kluft).
Es ging sowohl um die Kluft zwischen Maori und weissen Neuseeländern als auch zwischen Arm und Reich. Was die Angleichung der Einkommen anbelangt, so müssen wir zusehen, dass unsere besten Leute im Land bleiben, aber auch im untersten Segment Jobs erhalten. Ein Instrument, trotz den Differenzen soziale Sicherheit zu gewährleisten, sind Steuererleichterungen für geringe Einkommen, Investitionen in Gesundheit und Ausbildung, Pensionen. Wir sind Sozialdemokraten, wir wollen keine Bettler auf der Strasse. Schauen Sie sich in Neuseeland um, Sie werden keine finden.
Anja Jardine ist NZZ-Folio-Redaktorin.