Milchmädchenrechnungen auf dem Tempelhofer Feld

Flughafen Tempelhof
Tempelhofer Feld, Foto cc: Michael

Seit einiger Zeit geistert ein ‚Gutachten’ durch die Berliner Presselandschaft, in dem Kosten in Höhe von ca. 300 Millionen Euro diagnostiziert werden, für den Fall, dass der Tempelhofer Flughafen nicht bebaut wird. Wie bitte? Es entstehen Kosten, wenn ein Bauprojekt nicht realisiert wird? Ist das nicht eigentlich gerade anders herum? Zur Erinnerung: Der ehemalige Tempelhofer Flughafen bildet seit seiner Schließung im Jahr 2008 die größte innerstädtische Freifläche der Welt (!). Seitdem ist das Tempelhofer Feld nicht nur ein hoch geschätzter Ort für alle FreundInnen öffentlicher Freiräume, sondern auch ein Objekt der Begierde für alle, die sich auf der Suche nach innerstädtischen Baugrundstücken befinden, allen voran die Berliner Senatsverwaltung – und somit ein ziemlicher politischer Zankapfel. Und hier kommt das besagte Gutachten des Forschungsinstituts Empirica ins Spiel.

Entstanden ist das Gutachten laut Berliner Zeitung im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung und der Tempelhof Projekt GmbH, deren explizites Ziel es wiederum ist, die (Rand-)Bebauung der Freifläche duchzusetzen. Und es rechnet vor, dass ein Verzicht auf die Bebauung ca. 300 Millionen Euro kosten würde. Allein der Umstand, dass das Gutachten so ausdrücklich die Interessen seiner Auftraggeber stützt, sollte stutzig machen. Doch das ist der Tagespresse, die die Zahlen zirkuliert, offenbar keinerlei Erwähnung wert. Darüber hinaus fragt sich, wie die Kosten eigentlich zu Stande kommen sollen?

Ein Verzicht auf die Bebauung des Areals würde nach Darstellung der Gutachter dazu führen, dass die geplanten Wohnungen und Gewerbeflächen an anderen Orten errichtet werden, die weniger zentral liegen. Folge: „Das größere Verkehrsaufkommen“ verursache private und öffentliche Kosten in Form von Zeitverlust, Lärm, Schadstoffen, CO2-Emissionen und Unfällen in der genannten Größenordnung – hochgerechnet auf 50 Jahre,

so die Berliner Zeitung. Spätestens an dieser Stelle sollten die Alarmglocken schellen. Denn hier wird mit der spekulativen ‚Berechnung’ fiktiver Kosten ein politischer Sachzwang konstruiert. Die Grünen haben das Gutachten deshalb auch als ‚Vodoo-Berechnung’ bezeichnet. Doch eine kritische Auseinandersetzung mit dem besagten Gutachten bleibt in der Berliner Presse bislang aus.

Ist es denn aber wirklich niemandem aufgefallen, dass Verkehrsaufkommen und CO2-Emissionen vor allem von der regionalen Verkehrs- und vor allem der Nahverkehrspolitik abhängen, die für die nächsten 50 Jahre keinesfalls in Stein gemeißelt sind? Oder dass sich der Zeitverlust durch PendlerInnenverkehr eventuell gar nicht monetär gegen die Vorzüge einer einzigartigen innerstädtischen Freifläche aufrechnen lässt? Und: Warum haben die um innerstädtische Flächen bemühten GutachterInnen nicht zum Vergleich auch mal berechnet, was das Land Berlin gespart bzw. gewonnen hätte, wenn es anstatt des reaktionären Berliner Stadtschlossprojekts Unter den Linden eine zentral gelegene Siedlung mit Sozialwohnungen in Angriff genommen hätte? Nur mal so als Gedankenspiel.

Diese Art der politisch motivierten ‚Milchmädchenrechnung’ ist übrigens in den kommunalen Verwaltungen dank New Public Management Reformen der 1990er Jahre leider zur Regel geworden: Da werden etwa die Marktwerte öffentlicher Liegenschaften berechnet bzw. geschätzt. Und wenn die Kommunen diese Summen im Rahmen der Nutzung nicht eintreiben, wird die Differenz zum potentiell zu erwirtschaftenden Marktwert als realer Verlust in den Haushalt eingerechnet. Auf diesem Wege wird eine hochpreisige Nutzung öffentlicher Liegenschaften erzwungen oder eben auch gleich die Privatisierung – um fiktive Kosten zu senken, die nur auf dem Papier und nur durch politisch motivierte ‚Berechnungs’methoden anfallen.

Um auf das Tempelhofer Feld zurückzukommen: Die methodologischen Probleme und politischen Motiviertheiten des 300-Millionen-Gutachtens der Firma ‚Empirica’ (denn bei dem Forschungsinstitut handelt es sich um ein privates Unternehmen) mögen bei den meisten BerichterstatterInnen bislang leider unter den Tisch fallen. Zu Glück heißt das noch lange nicht, dass sich die LeserInnen (und die ParkliebhaberInnen, AnwohnerInnen, FreiraumaktivistInnen und viele andere mehr) für dumm verkaufen lassen.

4 Responses to “Milchmädchenrechnungen auf dem Tempelhofer Feld”

  1. Ein Feldfreund,

    Zum Hintergrund: das emprica-Gutachten wurde von der Berliner Senatsverwaltung in Auftrag gegeben, um die volkswirtschaftlichen Kosten der Nichtbebauung des Tempelhofer Feldes zu ermitteln. Die „berühmte“ Kostensumme von 298 Millionen Euro (über 50 Jahre) wurde dann als amtliche Schätzung der mit dem Gesetzentwurf der Bürgerinitiative 100% Tempelhofer Feld (www.thf100.de) verbundenen Kosten (der Nichtbebauung des Tempelhofer Feldes) verwendet. Lobenswert ist die Grundannahme des Gutachtens, nämlich dass die Investitionen, so sie nicht auf dem Tempelhofer Feld getätigt werden (können), anderswo getätigt werden. Dem Gutachten ist zu entnehmen, dass es insgesamt 315 alternative Standorte >1 ha(!) für Wohnungsbau und Gewerbe im Berliner Stadtgebiet gibt! Nach der traditionellen Berechnungsmethode wären lediglich die Investitionen, Folgeinvestitionen, geschätzten Steuereinnahmen usw. addiert worden nach dem Motto „Wenn die Investition nicht hier getätigt wird, dann nirgends“. Das hätte dann eine wesentlich größere Zahl zur Folge. Daher muss man als Feldfreund über das Gutachten, trotz aller methodischen Unsauberkeiten, gar nicht böse sein.

  2. C,

    Wahrscheinlich ist es der Tagespresse deshalb keinen Versuch wert, Gutachten, die von Empirica verfasst werden, in Frage zu stellen, weil es bei diesem Unternehmen nichts in Frage zu stellen gibt: Empirica ist nicht nur ein privates Unternehmen, es ist DAS führende Unternehmen, wenn es um Gutachten geht, die wirtschaftliche Interessen im Bereich Wohnungsmarkt und Stadtumbau argumentativ stützen können. Empirica erscheint als unbedingt seriöse Quelle, weil das Institut überall da auftaucht, wo es darum geht, Investitionsprojekten Marktfähigkeit zu bescheinigen und drohende Verluste bei Nichtumsetzung herbeizukalkulieren – so lange, bis die Hütte steht.

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